Kännchen auf der Herdplatte

In der Sprechgesangbranche steigt die Innentemperatur: Dem Rapper Sido täte eine künstlerische Auszeit mal ganz gut

  • Martin Knepper
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Grundsatz sollte lauten: Man schaue sich keine Stellungnahmen von und Interviews mit Prominenten an, bei denen diese outside ihrer box thinken bzw. über den Tellerrand schauen! Denn oftmals, wenn es keine Berufsgeneralisten wie, sagen wir mal, der Kunsttheoretiker Bazon Brock sind, ist ihr (Er)Kenntnishorizont jenseits ihres beruflich beackerten Feldes doch sehr beschränkt, und was Florian Silbereisen vom neuen Roman von Juli Zeh hält oder Juli Zeh vom neuen Album von Florian Silbereisen, das macht in vielfältiger Hinsicht den Kohl nicht fett. Vor ein paar Tagen jedoch war einer marktschreierischen Schlagzeile, »Sido verbreitet wirre Verschwörungstheorien«, ein Foto beigegeben, das den Rapper im Gespräch mit einem reizvoll aussehenden korpulenten Herrn, mutmaßlich gleichfalls aus der Sprechgesangbranche, zeigte, und weil dem Ganzen auch ein Bewegtfilmchen beigegeben war, dachte ich, na, sieh dir das bzw. den doch mal an.

»Interview« kann man dieses Format, das jetzt in Coronazeiten erblüht, im Grunde nicht nennen. Eigentlich lümmeln sich da derzeit Beschäftigungslose herum und plaudern so, wie sie es ansonsten in irgendwelchen Kneipen, in diesem Fall wohl eher Shisha-Bars, zu tun pflegen. Und woher Sido in seinem Akronym »SuperIntelligentes DrogenOpfer« den ersten Wortbestandteil nimmt, hat sich nicht ganz erschlossen. Auf jeden Fall plapperte er sehr anakoluthisch über den Schlagersänger Xavier Naidoo und dessen Gedankenwelt, wobei er aus seinem gewiss reichen Erfahrungsschatz zum Besten gab, er, also Sido, mit bürgerlichem Namen Paul Hartmut Würdig, würde ja auch so Leute aus der Gegend um Frankfurt kennen, und da habe ihm einer erzählt, der alte Rothschild hätte seine Söhne an alle möglichen zentralen Orte der Erde geschickt, und der Rest des Gesprächs war auch nicht besser.

Ob das vielleicht einfach nur ein Gebot der Höflichkeit bzw. des antiableistischen Denkens ist, dass man all diesen Torf, den diese Menschen gerade in letzter Zeit in jede aufgestellte Webcam absondern, als »Verschwörungstheorien« bezeichnet? Wenn man es mit entsprechend dokumentierten Äußerungen aus zum Teil schon länger aufgezeichneten Fällen vergleicht, wird man immer auf die Parallelen zum psychotischen Denken stoßen (nach wie vor lesenswert ist Daniel Paul Schrebers Buch »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«). Einem Denken, in dem das Hirn mit einem immer kleiner werdenden Set zunehmend abgegriffener Bausteine operiert, die sich fast täglich neu zusammenfügen, einander über dem Gebrauch so ähnlich geworden, dass man es fast für Kohärenz halten könnte.

Der Xavier und der Sido, die haben ja haschtechnisch nie reingespuckt und sind jetzt in so einem giftigen Alter, und dann auch noch die für uns alle irgendwie doch strapaziöse Sache mit dem Lockdown und diesem geisterhaften Virus, das noch keiner von uns gesehen hat, weil solche Viren halt sehr, sehr klein sind, noch viel kleiner als ein Krümel Pollen-Shit. Und wenn einen der liebe Herrgott dann zwar mit einem gewissen Talent für einen derzeit obwaltenden musikalischen Massengeschmack, vielleicht auch saugstarken Lungen, nicht aber mit einem Doktor in Virologie und Reflexion ausgestattet hat, da steigt dann irgendwann die Innentemperatur, und wie bei diesen drolligen italienischen Kaffeebereitern, die man direkt auf die Herdplatte stellt, schießt das alles durch ein Röhrchen nach oben ins Gefäß, wenn aber das Röhrchen oder das Sieb mal verstopft sind, kann es auch passieren, dass der ganze Prütt bis an die Decke spritzt, und mit etwas Glück merkt das keiner, dann nennt man es nachher »künstlerische Auszeit«.

Und es gibt eben nicht nur die, die sich ein zudem bezahltes Ventil in Form von Infogesang schaffen können, sondern da draußen stehen derzeit viele hunderttausend Kännchen auf der Herdplatte, und bei allen kann man es langsam ruscheln hören, die können auch ihre Fototapeten und Designerlampen, ihre Programmzeitschriften und Sportschützenpokale nicht mehr sehen, die müssen raus an die Luft, auch im übertragenen Sinne, der Kaffee muss raus, das läuft schon über alles, also gehen sie auf die Straße, filterlos, die braune Brühe läuft ihnen die Hosenbeine herunter, ob ihnen die noch jemand abkauft, wenigstens geschenkt haben möchte? Und was ist mit Tee?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.