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Zwischen Pragmatismus und Existenzsorgen
Die Klassikfestivals fühlen sich im Coronaregime ungerecht behandelt und arbeiten an Rückkehrszenarien
Warum darf man auf 800 qm shoppen gehen, aber Kulturveranstaltungen auf 800 qm sind nicht erlaubt?», fragt Tobias Wolff, geschäftsführender Intendant der Händel-Festspiele Göttingen. Wolff hat sein eigenes Festival bereits ins kommende Jahr verlagert. Er gehört daher zu den derzeit eher glücklicheren Kulturveranstaltern, die sich durch eine langfristige Verschiebung Planungsspielraum zurückerobert haben. Der zukünftige Intendant der Oper Leipzig (ab 2022) ist zugleich Sprecher des Forums Musik Festivals, dem sich mittlerweile 70 Klassikfestivals angeschlossen haben und die in dem Positionspapier verspieltnichtdiemusik die Politik zum Handeln auffordern. Kernforderung ist, die Kultur gleichzubehandeln mit Sport, Wirtschaft und Religion. Denn während in der Wirtschaft stark, im Sport und für die Kirchen moderat gelockert wird, bleiben Theater und Konzerte bis Ende August in geschlossenen wie auch in offenen Räumen verboten.
«Musikfestivals sind auch ein Wirtschaftsfaktor», betont Wolff und verweist auf die etwa 600 Musikfestivals in der Datenbank des Deutschen Musikinformationszentrums. 337 Millionen Euro setzten diese Festivals laut einer Umfrage der Gesellschaft für Musikforschung im Jahre 2013 um. Der Anteil der Klassikfestivals am Gesamtumsatz betrug allerdings nur 9 Prozent, 51 Prozent steuerten Rock und Pop bei. Im Vergleich zur Automobilindustrie, Gesamtumsatz 2019 436 Milliarden Euro, Inlandsumsatz 153 Milliarden Euro, wirkt dies lächerlich gering. Aber am Status der Kulturnation Deutschland nagt das Veranstaltungsverbot bis 31. August.
Das Verbot rührt auch aus einem mangelnden Verständnis der Politik für die Komplexität der Kultur her. «Kultur besteht nicht nur aus Großveranstaltungen. Es gibt ausreichend Repertoire für variable Besetzungen und viel Kreativität für alternative Formate», heißt es in dem Aufruf verspieltnichtdiemusik.
Beispiele für neue Formate gibt es viele. «Bei Open-Air-Veranstaltungen kann man mit Picknickdecken den Platz markieren, an denen sich Mitglieder eines Haushalts aufhalten können und so die geforderten Abstände einhalten», sagt Wolff «nd». «Orchester haben bereits auf Quartette und Doppel-Quartette umgestellt. Man kann in Kirchenräumen die Musiker mit den entsprechenden Abständen in der Mitte positionieren und das Publikum, ebenfalls in den geforderten Abständen, in konzentrischen Kreisen ringsum platzieren», meint Folkert Uhde, Intendant der Köthener Bachfesttage und Mitunterzeichner des Aufrufs. Die Bachfesttage sind für Anfang September geplant, und Uhde will sie mit einem neuen Konzept von «dezentralen Attraktionen» auch durchführen. Dazu gehören auch Minikonzerte von einem Musiker für einen oder zwei Zuschauer, die in mehreren Durchgängen zu den einzelnen Stationen kommen sollen. Ein Positionspapier, wie Veranstaltungen auch pandemiekonform organisiert werden können, legte der Europäische Verband der Veranstaltungs-Centren EVVC bereits vor.
Im Gesamtpanorama der Klassikfestivals gehören die Köthener Bachfesttage und die Händel-Festspiele Göttingen noch zu den glücklicheren. Uhde hat noch Hoffnungen, dass die Bachfesttage in verändertem Format zum geplanten Zeitpunkt stattfinden. Wolff befindet sich in der Rückabwicklung des ausgefallenen Festivals 2020 und dessen Verlagerung auf 2021. «Viel härter trifft es aber die Kollegen, deren Festivals noch nicht abgesagt sind und die für den Sommer geplant sind. Sie werden zerrieben zwischen Publikum, Musikern und den Stadtverwaltungen», beschreibt Wolff das Szenario. Zuschauer können sich gegenwärtig Veranstaltungen kaum vorstellen, Musiker wollen gern auftreten, die Städte scheuen vor Absagen zurück. «Für viele Festivalmacher stellt sich ein Haftungsproblem. Sagen sie eigenständig ab, handelt es sich nicht mehr um höhere Gewalt und ihnen kann die Insolvenz drohen», sagt er. Ausdrücklich begrüßt er, dass die Bundeseinrichtungen sich inzwischen zur Genehmigung von Ausfallgagen an Künstler entschieden haben. Bis letzte Woche war dies noch nicht der Fall. «Jetzt müssen auch die einzelnen Bundesländer diese Regelung übernehmen», weist er auf die nächsten Fallstricke hin. Wolff und Uhde halten auch die Verlängerung der Bewilligungszeiträume von Förderungen bis weit ins nächste Jahr für wichtig. Nur so können in diesem Jahr abgesagte Festivals in größerem Umfang nach 2021 verlagert werden. Von Gutscheinregelungen hält Wolff wenig - im Gegensatz zur Pop-Branche, die dazu aufgefordert hatte. «Man kann das Publikum nicht dazu verpflichten. Was passiert denn mit dem Gutschein, wenn ein Festival auch im nächsten Jahr nicht stattfinden kann? Was sagt man jemandem, der jetzt selbst das Geld braucht?», fragt er. Und auch die Budgetplanung für das Folgejahr werde kompliziert, wenn Gelder, mit denen man im nächsten Jahr rechne, jetzt schon als Gutschein verbucht würden. «Damit verschiebt man nur das Problem», so Wolff.
Überhaupt befürchten die Festivalmacher Auswirkungen noch für die nächsten Jahre. Die Kulturhaushalte der Kommunen und Länder könnten aufgrund der Covid-19-Pandemie schrumpfen. Und wenn einzelne Kommunen aufgrund defizitärer Haushalte dann unter Ausgabenaufsicht gestellt werden, bedeutet das, dass in erster Linie Pflichtaufgaben finanziert und freiwillige Aufgaben wie die Kultur aus der Perspektive des Haushaltsrechts gar nicht mehr oder nur in sehr geringem Umfang realisiert werden.
Für die kurzfristige Planungssicherheit fordert das Forum Musik Festivals klare Rahmenbedingungen für die Veranstaltungen und dabei eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Veranstaltungsformen. Mittelfristig stehen aber auch Revolutionen im Haushaltsrecht an, damit Covid-19 die öffentlich geförderte Festivallandschaft nicht komplett verwüstet. Mit internationalen Gastspielen großer Orchester und Chöre rechnen Uhde und Wolff für die nächsten zwei, drei Jahre nicht mehr. Der globale Gastspielbetrieb wird an Dynamik verlieren. Wichtig ist allerdings, dass nicht auch die Klassik dann nationalistisch durchbuchstabiert wird.
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