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Unterdrückte Menschlichkeit
Best of Menschheit, Folge 15: Traurigkeit
Es gibt in der US-amerikanischen Sitcom »Frasier« eine sehr schöne Szene. Die namensgebende Hauptfigur ist ein alternder Radiopsychologe, der gezwungen ist, mit seinem invaliden Vater, einem ehemaligen Polizisten, zusammenzuleben, was nicht gerade harmonisch abläuft. Als Frasier mit einer jüdischen Frau liiert ist, beobachten Sohn und Vater, wie diese einen Streit mit ihrer Mutter klischeehaft-theatralisch ausficht, bis die Tränen fließen und Mutter und Tochter sich versöhnt in den Armen liegen. Also versuchen der beeindruckte Frasier und sein Vater die gleiche Methode für ihren Konflikt, werfen mit heftigsten Vorwürfen um sich, fangen an zu heulen und können dann einfach nicht mehr aufhören; es wird alles einfach nur unaufgelöst schrecklicher.
Ich kann mich mit beidem identifizieren: dem Reiz des Ausheulens und dem Scheiterns daran. Immer wieder haben mir Menschen berichtet, zumeist solche, die eher der weiblichen Geschlechternormierung nahe sind, dass ausgiebiges Heulen wohltuend, ja befreiend sei. Bestimmt gibt es auch wissenschaftliche Studien, die das untermauern. Mir jedenfalls ist die Erfahrung dieser Befreiung noch nicht vergönnt gewesen, vielleicht wegen dieser elenden Männlichkeit, sonstiger kultureller Prägung oder irgendwelcher biografischer Details, die sicher nicht zum Besten der Menschheit gehören - und diese im übrigen auch nichts angehen.
Die Menschheit hat im Kapitalismus zu sich gefunden und mit dem, was euphemistisch »Klimawandel« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzublicken auf ein paar Tausend Jahre Zivilisation und all das, was trotz allem gar nicht so übel war.
Damit sei der Wert von Traurigkeit als Vorzug des Menschseins aber keinesfalls geschmälert. Denn sie ist nicht weniger als das Lachen, das man als TITANIC-Herausgeber ja eigentlich zu propagieren hat, ein Hilfsmittel in der herausfordernden individuellen Einrichtung mit den Zuständen, und nicht zuletzt der dräuenden Präsenz der Sterblichkeit. Dem perfiden Druck des Glücks in der kapitalistischen Reduzierung des Lebens mit nassen Augen zu entkommen, ist gewiss nicht das Falscheste im Falschen. Denn die Alternativen sind die Depressionen, die man auch Burn-out nennt, um sie auch noch zu einer Art Erfolg umzudeuten oder die Härte des soldatischen Mannes. Man kann durchaus als eine Bilanz aus dem aus den Fugen geratenen Menschheitsexperiments feststellen: Die Menschen, die nicht zu unheroischen Tränen fähig sind, gehören zum Unsympathischsten, weil Menschlichkeit unterdrückenden, was die vergangenen Jahrtausende hervorgebracht haben.
Jeder Soap-Opera-Kitsch hat mehr zu dem beigetragen, was doch nicht so übel war, als der vor sich hergetragene Wunsch, stehend zu sterben - oder was der faschisierte Körper noch so tun soll. Und gerade in der besonderen Mischung aus reduzierter Körperlichkeit und Allgegenwart des Todes, die so ein Corona-Lockdown bietet, ist in jedem Sinne des Wortes gepflegte Traurigkeit eine Freundin.
Ich bevorzuge dabei die Melancholie; seit meiner Kindheit, allerspätestens in der Jugend, als ich mir mein erstes eigenes Musikalbum zulegte: R.E.M.s »Automatic for the people«. Ich umgehe jetzt sicherheitshalber allgemein wertende Details und Empfehlungen, wohl wissend in welch Teufels Küche man gelangen kann, wenn es um Musikgeschmack (erst recht meinen) geht, und danke lieber ausnahmsweise ganz für mich Michael Stipe, dem Sänger der aufgelösten Band. Wie dieser feine Mensch, gerade auf Youtube zu besichtigen, in grün getaucht, mit seinem neuen Lied »No Time For Love Like Now« gegen die Hoffnungslosigkeit ansingt und ihr schmerzhaft und unprätentiös ein Lächeln abringt, rührt und tröstet mich zutiefst. Einem jeden Menschen, worin immer er sie findet, seien solche Empfindungen gegönnt.
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