Mit Sichtbarkeit gegen den Hass

Jeremy Borovitz hat das Attentat von Halle überlebt und fängt nun als Rabbiner an.

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 5 Min.

Jeremy Borovitz ist ein fröhlicher Mensch - und ein Optimist. »In Berlin gibt es heute ein so junges, vielfältiges und spannendes jüdisches Leben, da bin ich einfach voller Tatendrang«, sagt der 32-Jährige aus Brooklyn, der in der Hauptstadt kürzlich zum Rabbiner berufen wurde. »Die Gemeinde hat eine große Zukunft vor sich«, ist er sich sicher. Dass der jüdische US-Amerikaner so optimistisch und positiv in die Zukunft blicken kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Vor etwas mehr als vier Monaten erlebte er in Deutschland den dunkelsten Tag seines Lebens. Gemeinsam mit seiner Frau, der Rabbinerin Rebecca Blady, und Freunden aus der jüdischen Community Berlins war er zum Versöhnungstag Jom Kippur nach Halle gereist, um gemeinsam mit der dortigen Gemeinde den höchsten jüdischen Feiertag zu begehen. Borovitz und Blady waren im Gebetssaal der Synagoge, als ein rechtsextremer Terrorist das Feuer auf das Gotteshaus eröffnete und nur dank der Holztür, die den Schüssen des Attentäters standhielt, nicht ins Innere eindringen konnte.

»Die Ereignisse von Halle sind für uns bis heute sehr präsent«, sagt Borovitz. »Das Attentat hat uns verändert«, sagt auch Rebecca Blady und ergänzt: »Wir sind heute mehr denn je davon überzeugt, dass wir in Berlin bleiben wollen, um die jüdische Gemeinde zu stärken. Judentum in Deutschland darf nicht nur mit Antisemitismus assoziiert werden.« Vor ein paar Wochen war das Ehepaar zum ersten Mal seit dem Attentat wieder in Halle. Als sie vor der Synagoge und der Eingangstür standen, an der man nach wie vor die Einschusslöcher sehen kann, kamen alle Emotionen des Schreckenstags wieder hoch, erzählen sie. Dennoch sei es für beide ein wichtiger Besuch gewesen. »Es geht uns inzwischen besser, wir haben auch dank professioneller Hilfe gelernt, mit dem Erlebten umzugehen«, sagt Borovitz.

Für ihn sei es jetzt wichtig, sich auf das jüdische Leben in Berlin zu konzentrieren. »Ich möchte mich nicht ständig mit Hass und Antisemitismus befassen müssen.« Auch wenn er nicht naiv sei und wisse, dass es für Juden auch in einer multikulturellen Metropole wie Berlin nicht überall sicher sei. Seine Kippa setze er aber niemals ab, egal, ob er in Kreuzberg oder in Lichtenberg unterwegs ist. »In Berlin ist mir Antisemitismus zum Glück noch nie begegnet«, erzählt er. Zwar werde er immer mal wieder aufgrund seiner traditionellen jüdischen Kopfbedeckung von Fremden auf der Straße angesprochen, aber bislang seien diese Gespräche immer aus ehrlichem Interesse heraus entstanden und mit Respekt geführt worden. »Judentum ist in Deutschland immer noch keine Selbstverständlichkeit, das ist uns bewusst«, sagt Borovitz.

»Es war mir ganz, ganz wichtig, hier, also in Berlin, als Rabbiner ordiniert zu werden«, betont Borovitz. In einem Veranstaltungssaal in Kreuzberg hat Borovitz zusammen mit 130 geladenen Gästen seine Semicha, die formelle Einsetzung als Rabbiner, gefeiert. »Es war wirklich eine besondere Feier und es bedeutet mir sehr viel, dass so viele Freunde und auch meine Eltern dabei waren«, sagt er. Für den ganz besonderen Anlass hatte er sogar seinen blauen Schlips mit den weißen Punkten und seinen eleganten Anzug aus dem Schrank geholt. »Ich bin sonst eigentlich kein enthusiastischer Schlipsträger«, sagt er und grinst. Durch das traditionelle Auflegen der Hände eines bereits amtierenden Rabbiners - in diesem Fall durch Borovitz‘ ehemaligen Lehrer aus Jerusalem, der Rabbiner Daniel Landes, - wird dem neuen Geistlichen die Autorität in religiösen Angelegenheiten übertragen. Borovitz kann nun offiziell bindende Entscheidungen im Sinne der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, treffen.

Borovitz ist in einem religiösen Elternhaus in einer Kleinstadt in New Jersey aufgewachsen. 2013 ging er nach Israel, um dort als Rabbinerstudent anzufangen. Nach Zwischenstationen in Warschau und Kiew kam er vor einem Jahr zusammen mit seiner Frau und der gemeinsamen kleinen Tochter nach Berlin. Sie sind für die Hillel-Stiftung, die weltweit größte jüdische Studentenorganisation, mit der Motivation nach Deutschland gekommen, in der Hauptstadt dabei mitzuhelfen, das jüdische Leben in Berlin aufzubauen.

Zusammen mit seiner Frau hat Borovitz die Initiative »Base Berlin« gegründet. Die Gruppe versteht sich als Plattform für junge Juden aus aller Welt, die sich miteinander vernetzen wollen und jüdische Werte sowie Spiritualität und Kultur vermitteln möchten. Derzeit leitet Borovitz einmal pro Woche einen Kreis von Interessierten an, die zusammen die Thora lesen und den Talmud studieren. Die Sitzungen finden immer in der »Base«, also Borovitz’ und Bladys’ gemeinsamer Wohnung in Kreuzberg, statt. »In den Heiligen Schriften steckt so viel Weisheit, aber auch enorme Kraft und Zuversicht«, sagt der frisch ordinierte Rabbiner, der sich selbst als traditionell und seine religiöse Ausrichtung als modern-orthodox beschreibt. Wenn man den jungen Mann mit der roten Kippa auf dem Kopf über den Talmud und über das Judentum in Berlin sprechen hört, schwingt viel Elan und Energie in seiner Stimme mit.

Es sei wichtig, als Juden in der Stadt Präsenz zu zeigen und sich vor allen Dingen nicht zu verstecken, meint der junge Rabbiner. Mit seinem neuesten Projekt, einem Podcast, will Borovitz zu mehr jüdischer Sichtbarkeit beitragen. Mit den frei im Internet anzuhörenden Episoden unter dem Titel »Torah Curious« stellt der 32-Jährige junge Juden aus Berlin und ihre Geschichten vor. »Durch die individuellen Biografien kann jeder interessierte Hörer etwas über den jeweiligen Menschen, sein Leben und sein Judentum erfahren«, sagt der Rabbiner. Denn wer Menschen und ihre Eigenheiten einmal persönlich kennenlerne, so seine Überzeugung, könne sie nicht hassen.

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