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Es gibt keine Idylle mehr
Gustav Mahler war modern, nicht romantisch! Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko spielten seine 6. Sinfonie
Unbeirrt, klirrend, forsch und grausam schreiten die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko zu Beginn der 6. Sinfonie von Gustav Mahler voran, in unerbittlichem Marschrhythmus. »Des Morgens zwischen drein und vieren, da müssen wir Soldaten marschieren«, heißt es in Mahlers verwandtem Orchesterlied »Revelge«.
Dieses Marschieren ist nicht nur eines von Soldaten, sondern weist weit darüber hinaus; hier marschiert die gesamte Menschheit zum Abgrund: Wir ahnen die Katastrophen, den Wahnsinn des 20. Jahrhunderts, sie werden zu dessen Beginn in Mahlers Musik förmlich vorweggenommen: das Schreckliche, das »gelassen verschmäht, uns zu zerstören«, wie es Rilke in seinen »Duineser Elegien« formuliert hat, einem Werk, das ebenso neu und ohne Vorbild war wie Mahlers Sinfonien.
Kirill Petrenko zelebriert das Unerbittliche, das Grausame dieser Musik, und er nimmt die Partitur dabei sehr ernst. Wir haben uns an das Überschwängliche gewöhnt, mit der Mahlers Musik in der Linie von - sagen wir - Bernstein bis Currentzis interpretiert wird. Doch Petrenko ist hier eher bei Kirill Kondrashin, dessen herausragende Mahler-Interpretationen aus den 60er und 70er Jahren mit den Moskauer und Leningrader Philharmonikern und dem Staatssinfonieorchester der UdSSR im Westen geradezu sträflich unbeachtet blieben.
Es ist eine strenge Interpretation, die einiges zutage fördert, was man sonst eher selten hört: Das grandiose Durcheinander am Ende des ersten Satzes etwa, das eben das Durcheinander des Lebens ist, alles steht gleichberechtigt nebeneinander, ohne sich zu einem Großen und Ganzen zu fügen. Dieses Nebeneinander macht einen Großteil der Faszination der Mahler’schen Sinfonik aus. Und das ist ja nicht zuletzt auch ein Nebeneinander der Klangfarben, die Petrenko und die in allen Facetten schillernden Philharmoniker herausarbeiten: Im berühmten »Dur-Moll-Motiv« zum Beispiel, das ein zentrales Klangsymbol dieser Sinfonie darstellt, im Dur-Akkord dominieren die Trompeten fortissimo, im Moll-Akkord die Oboen, Zuversicht, die ins Hoffnungslose sich wandelt. Und zurück. Und wieder aufs Neue in die Hoffnungslosigkeit …
Sicher, man kann sich den ersten Teil des Seitenthema-Motivs, diese schwelgende, ob ihrer Einfachheit »vielbeschimpfte« (Adorno) Melodie weltumarmender vorstellen - doch in der Konsequenz, in der selbst das Schöne eben eine Ahnung des Schrecklichen gibt, gerät es einzigartig. Die Herdenglocken werden größtenteils aus dem Nebenraum bedient, es gibt keine Idylle mehr, das ländliche Idyll erklingt nur aus der Ferne; es gibt im 20. Jahrhundert eben keine »Heimat«, höchstens als Utopie wie bei Ernst Bloch, als Ort, der uns aus der Kindheit scheint und an dem noch niemand wirklich war.
Wir erleben bei Petrenko und den glänzend aufgelegten Berliner Philharmonikern (die Bläser, allen voran der Solo-Hornist!), wie wenig romantisch, sondern wie modern Gustav Mahler war - gerade die Zweite Wiener Schule schätzte diese 6. Sinfonie, die es so lange so schwer hatte im Musikleben, ganz besonders. Wir erleben im 4. Satz, wie nahe diese Musik an Debussy und Ravel ist; und auch das »Indiana Jones«-hafte, das sekundenlang anklingt, lässt Petrenko zu, um es gleich wieder durch schroffe Sforzato-Akkorde zu zerstören. Hört nicht so romantisch! Und schon gar nicht bei den Hammerschlägen - die Pauken, die das grundieren, sind viel wesentlicher. Und wie Petrenko das Wienerisch-Ländlerische des Scherzo zu einem furiosen Hexensabbat entgleiten lässt, der an die dramatischen Zeichnungen und Gemälde von Hans Baldung Grien denken lässt, die zurzeit in der Kunsthalle Karlsruhe zu sehen sind - das hat man in dieser Dringlichkeit selten gehört.
Ein aufwühlender, beeindruckender Abend mit einem notwendigen ästhetischen Gegenentwurf zur gängigen aktuellen Mahler-Rezeption.
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