Der ewige Kreis

Eine Spurensuche nach den Ursprüngen von »König der Löwen«.

  • Fabian Goldmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Staunend versammeln sich die Tiere des Königreiches, um den neugeborenen Prinzen zu begrüßen, doch schon bald endet dessen unbeschwerte Kindheit mit der Ermordung eines Elternteils. Jahre später und konfrontiert mit dem Untergang seines Reiches tritt der herangewachsene Prinz in die Fußstapfen seines Vaters und wird selbst zum König. Mit seiner Jugendliebe vereint, endet die Geschichte mit der Geburt des neuen Nachkommen, und der ewige Kreislauf der Natur beginnt von Neuem. Wenn dieser Tage die neue Verfilmung von »Der König der Löwen« in die Kinos kommt, steht damit nicht nur das computeranimierte Remake eines der erfolgreichsten Zeichentrickfilme aller Zeiten an. Die Geschichte über Macht und Verantwortung in der Savanne gilt auch als erster Disney-Film, der gänzlich der Fantasie der eigenen Autoren entsprungen ist. Von »Schneewittchen« bis »Arielle« hatte Disney stets bestehende Geschichten adaptiert. »Der König der Löwen« kam hingegen ganz ohne literarische Vorlage aus. Offiziell zumindest. Denn nicht nur der Umstand, dass die Einleitung zu diesem Text ebenso den 1942 erschienen-en Zeichentrickklassiker »Bambi« zusammenfasst, lässt Zweifel daran aufkommen.

Seit 25 Jahren diskutieren Fans und Kritiker über die Ursprünge des Löwendramas. Der am meisten verbreitete Vorwurf lautet, »Der König der Löwen« sei die kindgerechte Zeichentrickversion von Shakespeares »Hamlet«: Ein König, der vom eigenen Bruder ermordet wird; ein Prinz, der im Exil vom Geist des toten Vaters besucht wird ... Disney selbst hat diese Theorie genährt: Als »Hamlet in Afrika mit Bambi, also Bamblet« beschrieb Disney-Drehbuchautorin Irene Mecchi die Ursprungsidee zum Film einmal.

Von dieser frühen Idee dürfte kaum etwas übrig geblieben sein: Hamlet und Simba verbindet zwar der Tod ihrer Väter, doch Disney macht aus dem traumatischen Erlebnis eine Story über die Bürde des Erwachsenwerdens, während Hamlet längst erwachsen ist. Wo der Prinz von Dänemark in destruktiver Todessehnsucht schwelgt, flüchtet sich der Löwenprinz in Hedonismus. Während Mufasa alles tut, um seinen Sohn auf die Regentschaft vorzubereiten, beschränkt sich die elterliche Verantwortung von Hamlet sen. auf Racheforderungen. Der Film endet damit, dass die rechtmäßige Herrschaft wiederhergestellt und die Savanne zum Blühen gebracht wird. In Shakespeares Drama hingegen sind am Ende alle erstochen, vergiftet oder ertrunken, und die Norweger übernehmen die Macht.

Wenn schon Shakespeare, dann ähnelt Simbas Werdegang eher dem von Prinz Hal aus dem Historiendrama »Heinrich IV«. Auch Hal ist ein privilegierter junger Mann, der die Verantwortung für sein Königreich vernachlässigt: »Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.« Erzählungen über konfliktbeladene Jungs, die im Exil zu verantwortungsvollen Männern heranreifen, gibt es allerdings auch jenseits von Shakespeare-Dramen in der Literatur reichlich. »König der Löwen«-Produzent Tom Schumacher nannte in einem Interview Ben Hur und die biblische Mosesgeschichte als Inspiration. Wie Simba verlassen auch Moses und Ben Hur ihre Heimat und kehren zurück, um die Familienehre wiederherzustellen. Prophet und Löwenprinz eint die Erfahrung einer himmlischen Botschaft.

Andere Hinweise führen weg von der europäischen Kulturgeschichte: Schon für den Zeichentrickfilm legte Disney großen Wert auf Realismus - Zeichner wurden zum Tierstudium nach Kenia geschickt, ein Eröffnungssong in Zulu komponiert, die Namen der Protagonisten dem Swahili entlehnt. Wäre es dann nicht nur logisch, dass sich Disney auch seine Geschichte auf dem Kontinent gesucht hat? Schon 1994 meldeten sich Stimmen aus Westafrika, die das behaupten. Seit dem 13. Jahrhundert wird dort die Legende erzählt vom ersten König Malis, Sundiata Keita, auf Deutsch: der Löwenkönig. Er wurde von einem machthungrigen Familienmitglied als junger Prinz ins Exil getrieben. Während seine Heimat im Chaos versank, wuchs Sundiata zum verantwortungsvollen Thronanwärter heran, kehrte zurück und errichtete ein gerechtes Reich.

Hinweise auf den Ideenklau jenseits von inhaltlichen Ähnlichkeiten gibt es im Fall von Sundiata allerdings keine. Erdrückender ist die Indizienlage hingegen in einem anderen Verdachtsfall: Kein Vorwurf wird von Disney-Kritikern so leidenschaftlich erhoben, wie der, dass »Der König der Löwen« in Wahrheit ein Abklatsch des japanischen Anime »Der Dschungelkaiser« sei, hierzulande besser bekannt als »Kimba, der weiße Löwe«. Dieser springt bereits seit den 50ern über japanische Mangaseiten und ähnelt Simba verblüffend: Kimba ist ein Löwenwaise, der Anspruch auf das Königreich seines Vaters erhebt. Sein ärgster Widersacher wird ebenfalls von einem Hyänen-Clan unterstützt und verfügt über eine ähnliche Augenverletzung wie Simbas böser Onkel Scar. Hinzu kommen einen geschwätziger Vogel, ein weiser Pavian und viele Szenen, die wirken, als hätten Disneys Zeichner sie einfach abgemalt.

Disneys offizielle Position lautet bis heute: Kein Verantwortlicher habe vor Veröffentlichung von »Der König der Löwen« je von Kimba gehört. Doch es gibt gute Gründe daran zu zweifeln. Vor seiner Arbeit an »Der König der Löwen« arbeitete Regisseur Roger Allers mehrere Jahre in Tokio. Kimba war damals längst japanisches Kulturgut und von Frühstücksdosen bis zum Sportmaskottchen allgegenwärtig geworden. Der damalige Chef von Disneys Animationsabteilung, Roy Disney, outete sich 1993 als Kenner des japanischen Zeichentricks, als er in einem Interview versehentlich von »Kimba« sprach, als er »Simba« meinte. Dessen Synchronsprecher Matthew Broderik sagte 1994 scherzhaft, dass er Kimba spielen dürfe, den er schon als Kind gekannt habe. Kimbas Erfinder Osamu Tezuka wiederum arbeitete seit den 60ern mit Disney zusammen und adaptierte Disney-Filme zu japanischen Comics. Ist die Geschichte um einen Löwenjungen also nur die dreiste Kopie jener über einen anderen Löwenjungen? Ganz so einfach ist es nicht. Denn die Geschichte vom »Dschungelkaiser« prägt ein Motiv, das in »Der König der Löwen« völlig fehlt: die problematische Beziehung zwischen Mensch und Tier. Wen das an einen anderen Disney-Film erinnert, der hat recht. Anders als seine Disney-Kollegen machte Tezuka kein Geheimnis daraus, woher er die Idee für Kimba hatte: von Disneys Bambi.

Im schlimmsten Fall hat Disneys also bei jemandem kopiert, der zuvor bei Disney kopiert hat. Ob man in »Der König der Löwen« nun die Einflüsse von Shakespeare oder von Sundiata entdeckt, die Bibel oder Ben Hur als Vorlage ausmacht, Simba für eine Kopie von Kimba oder Bambi hält, sicher ist lediglich: Wie jeder andere Film steht »Der König der Löwen« in einer langen verworrenen kulturellen Tradition. Statt als Gerade mit Ursprung und Ende lässt sich diese besser mit einem Bild aus der afrikanischen Savanne beschreiben: Es ist ein ewiger Kreis.

»Der König der Löwen«, USA 2019, 118 Min.

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