Im Auge des Betrachters

Für Isabel Erdem eignet sich der von Heinrich Lübke geprägte Begriff »Unrechtsstaat« nicht zur Bewertung der DDR

  • Isabel Erdem
  • Lesedauer: 3 Min.

In der ehemaligen Bundesrepublik galt der 17. Juni als »Tag der deutschen Einheit«. Anlässlich des zehnten Jahrestags der »Volkserhebung in Ost-Berlin und der sowjetisch besetzten Zone« erklärte Bundespräsident Heinrich Lübke den Tag zum Nationalfeiertag. In seiner Proklamation heißt es: »Zwar ist der Versuch gescheitert, die Ketten fremder Gewaltherrschaft abzuschütteln.« Doch werde man durch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 »eindringlich gemahnt an die Verantwortung für unsere Landsleute hinter dem Eisernen Vorhang und an unsere Pflicht, die Einheit aller Deutschen wiederzuerringen, die Einheit, die seit dem Zusammenbruch von unserem Volke mit heißem Herzen ersehnt wird.« Den »Kämpfern für Freiheit und Einheit in Mitteldeutschland und Ost-Berlin« versprach Lübke: »Wir, die wir nach der Hitler-Diktatur in einer rechtsstaatlichen Ordnung leben dürfen und als Partner der neuen Welt die Bundesrepublik nach unserem Welt- und Menschenbild aufbauen konnten, sind vor der Geschichte und vor unserem Gewissen verpflichtet, für die einzustehen, die noch immer einem Unrechtsstaat ausgeliefert sind.« Lübke prägte so einen Begriff, an dem bis heute bundesdeutsche Ideologie gemessen wird: den »Unrechtsstaat«.

Lübke selbst hatte seine Karriere im »deutschen Rechtsstaat Adolf Hitlers« (NS-Funktionär Hans Frank) begonnen. Das verbreitete (Un-) Rechtsempfinden der postnazistischen westdeutschen Gesellschaft lautete, wie es Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger formulierte: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Noch 1954 meinte der Bundesgerichtshof, der deutsche Staat sei in seinem »wahren inneren Kern von dem nationalsozialistischen Terror nicht berührt« worden. Dieser Ansicht waren viele westdeutsche Juristen. Sie hatten am »Recht« des NS-Staats mitgewirkt: Karl Larenz, Theodor Maunz, Ernst Forsthoff und viele mehr. Ihr »Rechtsstaat« praktizierte die Auflösung aller Menschenrechte, die Aufhebung des Rechts, nicht legal, sondern mit in höchstem Maße illegalen Methoden. Er war ein Werkzeug zur Ermordung von Millionen Menschen.

Später nannte sich die DDR »sozialistischer Rechtsstaat« – trotz des harten politischen Strafrechts, weitreichender Überwachung durch Stasispitzel, trotz eines durch eine staatsleitende Partei entmachteten Parlaments und der gravierenden Einschränkung persönlicher Freiheiten. Bis heute nennt sich die Bundesrepublik »demokratischer Rechtsstaat« – und das trotz des politischen Strafrechts und der Berufsverbote im Kalten Krieg, weitreichender Überwachung durch Datenspeicherung und Verfassungsschutzspitzel, trotz eines durch wirtschaftliche Sachzwänge entmachteten Parlaments und der gravierenden Einschränkung sozialer Grundrechte.

Versteht man den Rechtsstaat als Gesetzesstaat, ist jeder Staat ein solcher, der allgemeingültige Regeln (durch-)setzt. Der Begriff eignet sich dann kaum zur Bewertung. Denn Recht schließt nicht Unrecht und Unrecht nicht die Möglichkeit seiner Gesetzlichkeit aus. Meint Rechtsstaat hingegen einen gerechten Staat, dann gibt es ihn nicht. Jede übergeordnete Herrschaftsgewalt produziert subjektive Ungerechtigkeiten – sicher verschieden im Ausmaß und gegenüber unterschiedlichen Opfern. Recht ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Anwendung gleichen Maßstabs auf ungleiche Sachverhalte. Recht ist abstrakt. Unrecht ist konkret. Recht kann helfen, Unrecht zu vermeiden. Es kann aber auch Unrecht festschreiben. Es kommt auf den Inhalt an. Gerechtigkeit ist keine (bloße) Formfrage.

Der »Unrechtsstaat« liegt immer im Auge des Betrachters. So sagt der Begriff wenig über einen Staat, aber viel über seinen Verwender. Es geht darum, »die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren«, wie es der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags bemerkenswert formuliert hat.

Lübke machte aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Es ist die, die Thomas Mann im Auge hatte, als er »in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches […], die Grundtorheit unserer Epoche«, erblickte. Wie die Diskussion um den (Un-)Rechtsstaat, so hat auch diese Gesinnung bis heute Tradition.

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