Ein Abdruck im Immunsystem
Allergien und Traumata in der Kindheit hinterlassen Spuren bis ins Erwachsenenalter
Das Immunsystem formt sich bereits in der Kindheit: Traumatisierte Kinder und Heranwachsende, die zu Allergien neigen, leiden im Erwachsenenalter eher an chronischen Entzündungskrankheiten und psychischen Beeinträchtigungen. Zu dieser Erkenntnis kamen Forscher der Universitäten von Zürich und Lausanne. Die Wissenschaftler um Vladeta Ajdacic-Gross, Epidemiologe und Biostatistiker an der Universität Zürich, untersuchten das Zusammentreffen von Allergien, viralen und bakteriellen Krankheiten sowie von psychosozialen Belastungen in der Kindheit und deren Auswirkungen auf das Erwachsenenalter. Die Ergebnisse publizierten sie im Fachmagazin »BMC Medicine«. Dabei bestätigten sie nicht nur frühere Erkenntnisse, dass Menschen, die als Kinder in ländlicher Umgebung aufwachsen, über ein kräftigeres Immunsystem verfügen als Städter. Sie stellten vor allem fest, dass sowohl in der Kindheit erworbene Krankheiten als auch psychische oder soziale Traumata lebenslang auf das Immunsystems wirken.
Bereits vor zehn Jahren hatte der Londoner Epidemiologe David Strachen systematisch allergische Erkrankungen von Patienten des Jahrgangs 1958 analysiert. Seine Erkenntnisse fasste er in der sogenannten Hygienehypothese zusammen, die besagt, dass eine bessere Hygiene unser Immunsystem nicht ausreichend stimuliert. Infolgedessen nehmen chronisch entzündliche Erkrankungen und Allergien zu. Bereits in der Kindheit zeichnen sich so Unterschiede des Immunsystems ab, die das weitere Leben prägen.
Die Forscher aus Zürich und Lausanne wollten die bislang gewonnenen Erkenntnisse nicht nur verifizieren, sondern auch um psychosoziale Komponenten ergänzen. Hierzu untersuchten die Mediziner und Soziologen um Hauptautor Ajdacic-Gross 5000 Mitte des 20. Jahrhunderts geborene Personen. Aus den frühen Krankheitsmustern identifizierten die Wissenschaftler fünf unterschiedliche Gruppen. Zwanzig Prozent der Teilnehmer verfügen über ein sehr stabiles Immunsystem. Die Hauptgruppe (60 Prozent) lässt sich als unauffällig bezeichnen und verfügt über ein neutrales Immunsystem. Diesen beiden Gruppen stehen drei kleine Gruppen gegenüber: In der »atopischen« Gruppe (7 Prozent) traten mehrere allergische Erkrankungen auf. Die »gemischte« Gruppe (9 Prozent) hatte allergische Erkrankungen sowie bakterielle Kinderkrankheiten wie Scharlach, Keuchhusten oder Röteln. Die kleinste Gruppe (rund 5 Prozent) umfasste psychisch traumatisierte Kinder.
Die ersten beiden Gruppen waren auch im Erwachsenenalter vor chronischen Entzündungskrankheiten und psychischen Beschwerden gut geschützt. Anders verhielt es sich bei den anderen drei Gruppen; Teilnehmer der atopischen oder der gemischten Gruppe, die in ihrer Kindheit Allergien ausgebildet hatten, waren im Erwachsenenalter einem erhöhten Risiko ausgesetzt, körperlich oder psychisch zu erkranken. Die traumatisierte Gruppe zeigte hingegen eine höhere Anfälligkeit für allergische Erkrankungen. Alle Teilnehmer dieser drei Gruppen zeigten zudem ein höheres Risiko für chronische Entzündungskrankheiten. Dies beschränkte sich bei der »traumatisierten Gruppe« jedoch vor allem auf Frauen.
Die Forschungsergebnisse bestätigten bereits früher durchgeführte Studien, bei denen - so an der Universität von Wisconsin - bei im Frühkindalter traumatisierten Kindern im jugendlichen Alter eine Schwächung des Immunsystems nachgewiesen werden konnte. Für die Stichhaltigkeit der Studie spricht zum einen die hohe Probandenzahl sowie andererseits der sich über mehr als sechzig Jahre erstreckende Untersuchungszeitraum. »Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Immunsystem wie eine Schaltstelle zwischen somatischen und psychischen Prozessen funktioniert«, sagte Ajdacic-Gross. »Sie helfen uns zu verstehen, weshalb auch viele Menschen ohne psychosoziale Vorbelastungen von psychischen Beschwerden eingeholt werden und weshalb umgekehrt traumatisierte Personen zu chronischen Entzündungskrankheiten und Allergien neigen.«
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