Ampel, Nutri-Score oder gar nichts

Landgericht Hamburg stoppt Nährwertkennzeichnung von Iglo. Ernährungsministerin Klöckner laviert weiter

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 5 Min.

Es wäre doch zu schön: Eine Ampel signalisiert, wie gesund Lebensmittel sind. Von grün für »Kannst du essen« über gelb »Hier pass lieber auf« bis hin zu rot »Geht gar nicht, bitte nur ausnahmsweise« - ganz einfach, ganz klar. Solch ein System würde vielleicht nicht allen Menschen helfen, sich gesünder zu ernähren, manchen aber schon. Auf der Strecke bleiben würden vermutlich die Umsätze einiger besonders süßer und/oder fettiger Zubereitungen. Gerade letzteres erscheint als die eigentliche Gefahr einer so deutlichen Lebensmittelkennzeichnung, nicht die angezweifelte Wissenschaftlichkeit der Ampel oder die vermeintliche Genussfeindlichkeit von Leuten, die andere bevormunden wollen.

In Sachen Lebensmittelkennzeichnung wird nun erneut gestritten, nachdem das Für und Wider einer Ampellösung schon fast vergessen war. Die Debatte endete in Deutschland zunächst 2008, als die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP einen Antrag der Grünen auf Einführung der Ampel abschmetterten. Damals soll Horst Seehofer (CSU) als Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz noch geplant haben, die Ampel auf freiwilliger Basis einzuführen, einige Bundesländer und die CSU hätten das gewünscht. Schon 2009 bei der Bundestagswahl sprachen sich nach Angaben von Foodwatch mehr als 70 Prozent der Direktkandidaten ebenfalls für die Einführung aus.

Dennoch ist bislang nichts daraus geworden. Und noch vor einem Jahr weigerte sich Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU), die Einführung der Ampel zu unterstützen. Die vereinfachende Kennzeichnung würde laut der Ministerin nur »Verwirrung« bei den Verbrauchern stiften.

Wie häufiger bei relevanten Themen, werden auch hier Fakten nicht durch die Politik, sondern durch Gerichte geschaffen. In der Woche vor Ostern war es das Landgericht Hamburg, das eine einstweilige Verfügung gegen eine Ampel-Variante der Lebensmittelkennzeichnung auf Iglo-Verpackungen erließ. Der in Hamburg ansässige Hersteller von Tiefkühlkost hatte, ebenso wie Danone, Bofrost, Mestemacher und McCain, beschlossen, den schon in Frankreich verwendeten Nutri-Score freiwillig auf seinen Produkten in Deutschland einzuführen. Das System setzt auf eine fünfstufige farbliche Kennzeichnung von A in Dunkelgrün bis E in Tiefrot. Neben dem Gehalt an Zucker, Fett und Salz werden in die Bewertung auch eher empfehlenswerte Bestandteile einbezogen - wie Ballaststoffe und Proteine. Der Nutri Score wird seit 2017 von der französischen Regierung empfohlen, und auch Belgien, Spanien, Portugal und Luxemburg wollen folgen.

Verhindern will diese Kennzeichnung der in München ansässige Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft - wegen Verstoß gegen EU-Wettbewerbsregeln. Online ist der Verband vor allem in Zusammenhang mit Angeboten von Rechtsanwaltskanzleien zu finden, die Abgemahnte unterstützen wollen. Unklar ist bislang, wer den Verband aktuell beauftragte. Das rechtliche Scharmützel ist in diesem Fall jedoch eher vorgelagert. Im Hintergrund stehen politische Versäumnisse und Interessen, denn eigentlich soll die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag noch in diesem Sommer eine neue Kennzeichnung für Deutschland vorlegen. Bis jetzt ist zweifelhaft, ob dieses Vorhaben planmäßig umgesetzt wird.

Denn inzwischen wollen nicht nur Danone, Iglo und wenige andere Hersteller den Nutri-Score nutzen, auch die SPD unterstützt seine Einführung. Bevor aus dem zuständigen Ministerium auch nur der Ansatz einer neuen Idee zum Thema zu sehen war, brachte justament am 12. April auch die Lebensmittelindustrie ein neues Modell ins Spiel. Vorgeschlagen wurde es vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, dem Spitzenverband der Branche.

Nach dessen Entwurf sollen die Angaben ebenfalls auf der Vorderseite von verpackten und verarbeiteten Lebensmitteln erscheinen und wesentliche Nährstoffe sowie die Kalorienanzahl »anschaulich und leicht verständlich visualisieren«. Zu sehen wären fünf Kreise mit jeweils mehreren Zahlenangaben und einem farblich abgesetzten Tortendiagramm. Das Diagramm zeigt an, wie viel Prozent der täglich empfohlenen Nahrungsaufnahme 100 Gramm des Lebensmittels ergeben. Basis dafür sei die EU-Referenzmenge von 2000 Kalorien pro Tag je Erwachsenen. Kritisiert wird das Modell vom Verbraucherzentrale Bundesverband, es sei »nicht intuitiv und sofort verständlich«. Selbst das Bundesernährungsministerium nennt es »sehr deskriptiv«: schon verpflichtende Nährwertangaben von der Packungsrückseite würden nur wiederholt.

Zu den verschiedenen Kennzeichnungssystemen hatte sich aktuell das Max-Rubner-Institut (MRI) geäußert, das dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft untergeordnet ist. Die in Karlsruhe ansässige Forschungseinrichtung sieht den Nutri-Score durchaus als taugliches Instrument der Lebensmittelkennzeichnung, so lautet eine Interpretation des aktuellen MRI-Berichtes. Einen ganz anderen Schluss zieht die Ernährungsministerin aus dem von ihr beauftragten Report. Keines der bestehenden Systeme biete für die Verbraucher eine optimale Lösung. Das MRI soll nun ein neues entwickeln, das dann gemeinsam mit den vorhandenen »relevanten« Systemen zu testen wäre. Das Institut weist darauf hin, dass eine Neuentwicklung mehrere Jahre dauern würde. Kritiker halten dieses Vorgehen für absurd und ein weiteres Geschenk an die Lebensmittelindustrie, weil eine Einführung unnötig verzögert würde.

Das MRI schließt zudem auch die Anwendung eines vorhandenen Systems nicht aus und betont, dass jede Kennzeichnung einen Mehrwert bei der Produktentscheidung biete - gegenüber gar keiner Kennzeichnung. Julia Klöckner geht aber offenbar schon das entschieden zu weit.

Scharfe Kritik an dem Vorgehen der Ministerin gibt es indessen auch von Foodwatch. Klöckner hätte längst eine Erlaubnis für den Nutri-Score bei der EU-Kommission einholen können, wie das auch andere Staaten getan hätten. Der Prozess gegen Iglo sei ein »absurdes Schauspiel«.

Iglo hatte vor Ostern angekündigt, umgehend Berufung gegen das Urteil des Hamburger Landgerichtes einzulegen. Auf der Webseite des Unternehmens können sich Verbraucher bereits über die Kennzeichnung von 140 Iglo-Produkten informieren. Die anderen Unternehmen, die den Score verwenden wollen, sind von dem Urteil vorerst nicht betroffen. Erste damit versehene Produkte seien bereits im Handel, teilte Danone mit. Das Hanseatische Oberlandesgericht wird entscheiden müssen, ob es sich den Bedenken der Vorinstanz anschließt und das in anderen EU-Ländern staatlich befürwortete Kennzeichnungssystem hierzulande verbietet oder doch zulässt.

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