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Ein Denkmal für die mutigen Frauen
Die erste Zuschrift zum 17. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb kam von Helmut Erich Bastian
Unser Treck führte im Januar und Februar 1945 zunächst von einem prächtigen Schloss, unserem zeitweiligen Kinderlandverschickungslager »Herreneichen« in der Nähe der Weichsel, bis nach Stettin. Zu zweit querten wir voreilend die zur Sprengung vorbereiteten Oderbrücken und verloren dadurch unsere zwei Ackerwagen. Ratlos ging es zum Bahnhof, wo uns eine ungeheure Menge verzweifelter Menschen empfing. Alle wollten weg. Hier trennten sich unsere Wege - mein Gefährte wollte zurück nach Danzig (danach hat sich seine Spur verloren), ich beschloss, mich nach Magdeburg durchzuschlagen. Dort hatte ich Verwandte.
Über Berlin erreichte ich die Stadt. Sie empfing mich nachts, völlig zerstört. Eine Luftschutzwache nahm mich für einige Stunden in ihre Obhut. Tags suchte ich die Friesenstraße, fand sie, aber völlig zerbombt. Nur eine Kreideschrift an der Grundmauer Nr. 36 hatte sich erhalten: »Wir leben, Karl Neumann, Abendstr. 8.«
Dort fand ich sie - vier Menschen. Sie werden einige Tage nach Kriegsende an einer Methylalkoholvergiftung sterben. Ihre Tochter, sie hat kürzlich entbunden, überlebt. Auch ich, wieder zu meinen Kameraden nach Hagebök bei Wismar befohlen, entgehe (vermutlich) der Vergiftung.
In den letzten Kriegstagen noch zum Wehrdienst verpflichtet, »dürfen« wir zu dritt italienische Kriegsgefangene (man nannte sie Badoglios) bewachen. Sie nehmen uns natürlich nicht ernst, weihen uns aber in ihre Sprache ein. Wir haben nichts dagegen.
Der Krieg, der in der Hansestadt Danzig, meinem Geburtsort, begonnen hatte, endet für mich in der Hansestadt Hamburg auf dem »Adolf-Hitler-Platz« vor dem Hamburger Rathaus. Zufällig entdeckt uns verwahrloste Jungen eine junge Frau, ihr unvergesslicher Name: Vosgerau. Sie nimmt uns auf. Ich darf einige Wochen in ihrer Wohnung in Altona, Winklersplatz 1 bleiben.
Spätestens hier will ich den Frauen ein Denkmal setzen. In den letzten Wochen des Krieges und danach wurde mir Hilfe und Unterstützung auf meinen Wegen und »Wanderungen« nur durch Frauen gewährt. In Stettin und Berlin durch Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission, in Hamburg durch die »junge Frau 1945«, später durch eine junge Frau in Magdeburg, die überlebte, weil sie den gepanschten Alkohol nicht getrunken hatte. Sie wurde mir zur Ersatzmutter.
Wenn Maxim Gorki gesagt haben soll: »Alles was ich bin, bin ich durch Bücher«, sage ich: »Alles was ich bin, bin ich durch meine Frau«. Gemeinsam führten uns unsere »Wanderungen durch die Zeit«. Mit zahlreichen Höhen und Tiefen. In unseren beiden Berufen - der ihrige, mehr eine Berufung, im Gesundheitswesen, ich in den Leuna-Werken »Walter Ulbricht«.
Die zweite völlig zerstörte Stadt die ich nach dem Ende des Krieges erreichte, haben wir im mühseligen Aufbau begleitet. In der Berliner Stalinallee haben wir geheiratet, im Friedrichshain wurde 1954 unser Sohn geboren. Mit Spreewasser getauft, kann er mit Recht sagen: »Ich bin ein Berliner«.
Unser Leben, es ist das Ergebnis eines Lidschlags Geschichte im Februar 1945 auf dem Bahnhof in Stettin.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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