Idlib ist nicht das letzte Problem

Weiter Unklarheit über vereinbarten Rückzug syrischer Rebellen aus geplanter Pufferzone

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Einen Monat nachdem sich Russland, die Türkei und der Iran quasi in letzter Minute geeinigt haben, eine vermutlich höchst blutige Offensive der syrischen Regierung im Gebiet um die Millionenstadt Idlib abzuwenden, ließen unterschiedliche Meldungen zu Wochenbeginn kein Gesamtbild erkennen. Trägt die Ruhe? Und wenn ja, wie lange?

Das am 17. September geschlossene Abkommen ist nichts anderes als ein Ultimatum. Es fordert die Einrichtung einer demilitarisierten Zone, die 15 bis 20 Kilometer tief ist und Frontlinien auch in den Provinzen Latakia, Hama und Aleppo einschließt. Bis zum vergangenen Mittwoch sollten alle schweren Waffen aus der geplanten Pufferzone abgezogen werden. Doch schon die Bestimmung, was schwere Waffen sind, fällt schwer. Dennoch: Zum Erfolg verdammt, bestätigte der türkische Geheimdienst MIT, der die notwendigen Verhandlungen mit den Anti-Assad-Milizen führte, dass sowohl die von der Türkei unterstützten Rebellen als auch die Kämpfer der Al-Qaida-Gruppierung Haiat Tahrir al-Scham (HTS) der Aufforderung nachgekommen seien.

In der letzten großen Hochburg der bewaffneten syrischen Opposition haben sich Zehntausende Militante, darunter ausländische Dschihadisten verschanzt - unter rund drei Millionen Zivilisten. Viele von denen waren gerade erst aus anderen Landesteilen in den Norden geflohen. Unter den Bewaffneten herrscht Misstrauen, man ist weiter denn je von einheitlicher Führung entfernt. Einige Einheiten verweigern daher ihre Mitwirkung am Waffenstillstand.

Noch einen Tag vor Ablauf der Frist für den Abzug radikaler Kämpfer aus der geplanten entmilitarisierten Zone wurden Mörsergranaten auf eine syrische Armeestellung in der nahe gelegenen Hama-Provinz abgefeuert, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Auch am Samstag hat es vereinzelte Schusswechsel gegeben, die noch zu keinen größeren Gefechten geführt haben. Solche Rebellenattacken könnten aber Wasser auf die Mühlen des syrischen Präsidenten Baschar Hafiz al-Assad sein, der seine Offensivpläne unter Moskaus Zwang nur auf Eis gelegt hat. In einem am Sonntag in der regierungsfreundlichen, weil Baath-Partei nahen Zeitung »Al-Thawra« gedruckter Leitartikel hieß es: »Die Zeit für Entschlossenheit ist in Idlib gekommen.«

Damit folgt die Propaganda der Linie Assads. Der Herrscher in Damaskus hatte zu Monatsbeginn alle - vor allem im Westen geäußerten Einwände - gegen eine geplante Offensive auf Idlib als »hysterisch« bezeichnet und das Entflechtungsabkommen als »vorläufig« charakterisiert. Seine Regierung strebe selbstverständlich die uneingeschränkte Kontrolle über ganz Syrien an. Was formal nicht, aus Sicht der Menschenrechte aber umso heftiger kritisiert werden muss.

Russlands Interesse an einer unblutigen Einnahme von Idlib ist offenkundig und dass Abmachungen mit Ankara trotz der harten türkischen Gegnerschaft zum syrischen Präsidenten funktionieren können, zeigte sich bei dessen Anrennen auf Aleppo 2017. Der Grund? Wesentlich wichtiger als eine gewünschte Schwächung seines syrischen »Kollegen« ist für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Niederhaltung der Kurden im Nachbarland. Solange die türkische Armee beim Kampf gegen YPG und PYG freie Hand erhält, schluckt Erdogan manche »Assad-Kröte«. Der türkische Machthaber hofft zudem, dass ein partielles Zusammengehen mit Russland ihm mehr Spielraum im Rahmen der NATO und besonders im Verhältnis zu den USA bietet.

Unklar ist weiter, welches Ziel die USA verfolgen. Immerhin sind auch sie - im Widerspruch mit dem Völkerrecht - mit Eliteeinheiten in Syrien präsent. Insbesondere östlich des Euphrat-Flusses halten sie mit Hilfe verbündeter kurdischer Rebellen ein Anti-Assad-Gebiet im Assad-Gebiet. In der Gewissheit, dass weder Moskau noch Damaskus sich direkt gegen die USA wenden, baut Washington seine kleine Insel aus. Zu welchem Zweck?

Einen direkten Sturz Assads anzustreben, würde sicher nicht einmal US-Präsident Donald Trump für möglich halten. Geht es den USA also »nur« darum, Russland nicht zu viel militärischen und damit politischen Raum zu geben? Will man Iran in Schach halten und damit auch Israel beruhigen? Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat die Notwendigkeit, das Problem zu lösen, vor einigen Tagen deutlich benannt. Er betonte, das Idlib keinesfalls die letzte Problemregion auf dem syrischen Territorium ist.

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