Willkommen in der Realität!
Ausnahmezustände und Abstraktionsstufen: Ein Sammelband über »Politik in Fernsehserien«
Dass es keine ideologiefreien Räume gibt, hat sich mittlerweile herumgesprochen; freilich treffen wir des Öfteren noch auf Naivlinge aus dem Latte-Macchiato-Milieu, die mit den Fingern durch ihren geölten Bart streichen und sich von ihrem Gesprächspartner höflich-dezent distanzieren, weil ihnen da jemand »so ideologisch« komme. Es gebe da durchaus auch »objektive Ansichten«...
Ja, und wahrscheinlich sind die zusätzlich noch vegan oder mindestens Bio und können zudem als Mantra beim Lach-Yoga trefflich zum Besten gegeben werden. Willkommen in der Realität! Und die findet immer öfter auch im Fernsehen statt. Damit sind nicht die berühmten ARD-Formate »Tagesschau« und »Tatort« gemeint, sondern die noch berühmteren »neuen« TV-Serien, die nun aber auch schon seit fast 20 Jahren als »neu« abgefeiert werden. Oder um genau zu sein, seit Ende der Neunziger Jahre, als der psychisch labile Provinz-Mafiosi Tony Soprano in New Jersey zum ersten mal im weißen Bademantel die Zaubertür zu seinem überdimensionalen Kühlschrank geöffnet hat.
Aber es geht auch etwas politischer. Denn insbesondere Erfolgsserien wie »House of Cards« (Netflix, seit 2013) oder »Gomorrha« (Sky, seit 2014) haben den politischen Betrieb oder die Kritik der unkritischen Seifenoper, die einen massenmedial oft als »Politik« verkauft wird, so inszeniert, dass einem die Streaming-Dienste und Bezahlsender teilweise wie Portale der Aufklärung vorkommen.
Doch taugt »das Politische« als Hauptrolle in modernen Fernsehserien? Tragen die dramaturgisch inszenierten Halbtotalen aus den Büros des Weißen Hauses als popkulturelle Erzählungen mit Millionenpublikum zur politischen Bildung bei? Und was wird dort ideologisch abgebildet?
In dem vom Parteienforscher Niko Switek herausgegebenen Sammelband »Politik in Fernsehserien« versuchen mehr als vierzig Autoren, vornehmlich aus dem Umfeld der Uni Duisburg-Essen, haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. In seinem Vorwort weist der Herausgeber auf die »Exekutivlastigkeit von Filmen und Serien« hin, da sich die Geschichten mit »Führungspersonen in Demokratien« am besten erzählen lassem würden, während das »Aufgreifen und Abbilden von Kollektivorganen wie Parlamenten« schwerer falle.
Und so geht in diesem Sammelband um »24 und die Normalisierung des Ausnahmezustands« (Frank Gadinger), um »Das Politische in der Phantastik am Beispiel der SF-Serie The Expanse« (Anne Sönnichsen) oder »Das Spiel der Kräfte - Politik, Medien und Familie in Borgen« (Johannes Bongardt und andere).
Dass die Lesbarkeit vieler Beiträge trotz des sehr populären Themas etwas schwergängig ist, liegt am ausgestellt akademischen Schreibstil. Er passt gut zu einer Diplomarbeit über Zuckerstangen, in der wir erfahren, dass die Disaccharide in ein bestimmtes Verhältnis zum Natriumlaktat gebracht werden müssen, wobei gleichzeitig das Titandioxid nicht vernachlässigt werden dürfe.
Wer aber lange Abschnitte englischer Originalzitate ohne Übersetzung nicht scheut, kann hier durchaus eine Menge über das Verhältnis von Faktum und Fiktion im TV erfahren.
Dass die Waffen der Kritik die Kritik der Waffen aber nicht ersetzen können, diese Erkenntnis finden wir freilich nicht in diesem Buch. Wenngleich in der Serie »Spartacus« (Pay-TV-Sender Starz, 2010 bis 2013) dazu einiges zu finden wäre.
In seinem Aufsatz zum »Realitätsgehalt fiktionaler Medien« streift der Politikwissenschaftler Manfred Mai zwar die Einschätzung der klassischen Kritischen Theorie, »wonach populäre Medien nur Auswüchse der Freizeitindustrie sind, die die entfremdeten Individuen mit dem Kapitalismus versöhnen« sollen, um sie sogleich zurückzuweisen. Denn ein solcher Befund gehe an der Realität unserer »modernen Gesellschaft« vorbei, da in dieser »eine weitaus größere soziale Vielfalt an Lebensstilen und soziokulturellen Milieus« existiere, als sie Horkheimer und Adorno damals gekannt hätten. Aha. So ist das also. Danke, Herr Professor. Dank auch an die Staatskanzlei NRW, wo Herr Mai als Referatsleiter Beschäftigung gefunden hat.
Anderseits, ich bin kein Professor. Was weiß ich schon!? Wenn ich Hochschuldozent wäre, würde ich vielleicht kritisieren, dass die begrifflichen Kategorien des außerplanmäßigen Herrn Professors nicht zu denen der Kritischen Theorie passen, abgesehen von der gewählten Abstraktionsstufe.
Serien, Bücher, Mediengesellschaften, Staatskanzleien und Professoren. Ist das alles etwa nicht politisch, äh, ich meine, ideologisch? Beziehungsweise laktosefrei? Huhn oder Ei? Ach was! Schluss jetzt. Ich bin schon ganz durcheinander, und, liebe Fernsehzuschauer, ich werde den Verdacht nicht los, dass genau das der Plan dieses Buches ist.
Niko Switek (Hg.): Politik in Fernsehserien - Analysen und Fallstudien zu House of Cards, Borgen & Co., transcript Verlag, 400 S., 39 €
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