Luther oder Leiche
Ein bizarrer Streit um ein Geschenk des Altkanzlers Schröder an die Marktkirche beschäftigt die Hannoveraner
Als Altkanzler Gerhard Schröder jetzt im Berliner Hotel Adlon seine fünfte Vermählung feierte, mag drei Männern in der promiträchtigen Runde womöglich eine Nachricht aus Niedersachsens Hauptstadt einen Wermutstropfen in die Hochzeitsfreude geträufelt haben: dem Bräutigam, dem mit ihm befreundeten Starmaler Markus Lüpertz und einem Gast namens Reinhard Scheibe, Vorstand der Marktkirche in Hannover. Ihr hatte der frühere Regierungschef ein Buntglasfenster als Geschenk zugesagt, das Lüpertz schaffen sollte. Doch just am Tag der Hochzeitsjubels untersagte der Erbe des Architekten, der das Gotteshaus in Niedersachsens Landeshauptstadt nach dem Krieg neu gestaltet hatte, endgültig den Einbau des Fensters.
Mit einem »Reformationsfenster« hatte Schröder der Stadt, deren Ehrenbürger er ist und als deren Wahrzeichen die Marktkirche gilt, eine Freude machen wollen. Die Gemeinde jener Kirche erfuhr davon im Frühjahr allerdings erst durch die Presse. Treue Gläubige waren verärgert, dass sie nicht in die Fensterplanungen einbezogen worden waren, sondern der Kirchenvorstand einfach im geschlossenen Kreis dem Konzept von Markus Lüpertz zugestimmt hatte. Der 77-Jährige war von Schröder mit dem Projekt beauftragt worden.
Die Marktkirche ist Hannovers größtes evangelisches Gotteshaus. Es entstand mitten in der Altstadt neben Marktplatz und altem Rathaus und wurde vermutlich gegen 1360 geweiht. Seit 1536 ist die Kirche evangelisch-lutherisch. Bei zwei Luftangriffen war der Backsteinbau 1943 bis auf die Außenmauern und die Innen-Säulen zerstört worden. Auch der 97 Meter hohe Turm hatte durch die Bomben schwer gelitten. Nach Plänen des Hannoverschen Architekten Dieter Oesterlen (1911-1994), der auch das Plenargebäude des Niedersächsischen Landtags schuf, wurde die Marktkirche von 1946 bis 1952 wieder aufgebaut und im Inneren protestantisch-schlicht neu gestaltet. Sie ist offizielle Kirche des Landtages sowie »Ratskirche« der Landeshauptstadt und Predigtstelle des evangelisch-lutherischen Landesbischofs. Das Geläut der Marktkirche ist nach dem Geläut des Hildesheimer Domes und des Braunschweiger Domes das drittgrößte in Niedersachsen und besteht aus elf Kirchenglocken. Die große Christus- und Friedensglocke selbst ist die größte Glocke Niedersachsens. haju
Falls Auftraggeber und Künstler gehofft haben sollten, das Geschenk werde allgemeine Begeisterung auslösen - keineswegs, denn: Neben Zustimmung gab es auch heftige Kritik am Lüpertz-Entwurf. Zu sehen sind darauf unter anderem eine weiß gewandete Gestalt, ein Gerippe und ein Tintenfass sowie fünf dicke Fliegen. Besonders jene Insekten sorgten für Unmut.
Bei einer Diskussion in der voll besetzten Marktkirche hatte Lüpertz im Sommer erläutert: Das 13 Meter hohe Fenster solle den »Kampf gegen das Böse« darstellen. Die weiße Gestalt sei Luther, der einer Legende zufolge sein Tintenfass gegen eine ihn störende Fliege geschleudert habe. Fliegen seien damals als Symbole des Teufels angesehen worden.
Doch aus der Gemeinde kamen auch andere Interpretationen, etwa: Man könne die weiße Gestalt als Leiche empfinden, die von den Fliegen abgefressen und dann zum Skelett wird. So eine Vorstellung, hieß es, könne Menschen, die beim Gottesdienst Erbauung suchen, empfindlich stören.
Störend wirke solch ein großes Buntglasfenster nach Ansicht einer Diskussionsteilnehmerin auch, weil es der Intention des Architekten Dieter Oesterlen widerspreche. Er hatte die durch Fliegerbomben schwer beschädigte Kirche neu gestaltet und dabei auf Farbe in den Fenstern zu beiden Seiten des Gotteshauses verzichtet. Verwendet wurde indessen eine weiße Verglasung. Damit, so die Kritikerin, habe der Architekt ein Mahnmal schaffen wollen, das besagen könnte: Solch eine Schlichtheit, so etwas kann ein Krieg zur Folge haben!
Der Oesterlen-Erbe Georg Bissen hatte schon im September gegen das Lüpertz-Fenster interveniert. Es würde das Konzept seines Stiefvaters für die Marktkirche und deren Atmosphäre verändern. Auf einem Treffen mit Kirchenvertretern hatte Bissen nun erneut betont, er habe auch das Urheberrecht von Oesterlen geerbt, bleibe bei seinem Nein und werde auch an keinen weiteren Gesprächen zur Sache teilnehmen.
Die Kirche denkt nun darüber nach, die Verwirklichung des Schröder-Geschenks einzuklagen. »Eine Kirche ist kein Museum, die verändert sich weiter«, sagte Pastorin Hanna Kreisel-Liebermann dem NDR-Magazin »Hallo Niedersachsen«. »Und es wäre eine Bereicherung, eine zeitgemäße Bereicherung, die aus unserer Sicht im Sinne Oesterlens gewesen wäre.«
Wie teuer das Fenster wird, dazu gibt es keine offiziellen Angaben. Fachleute schätzen, dass Material, Herstellung und Einbau den Altkanzler rund 100 000 Euro kosten.
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