Im Banne des verrückten Diamanten

»Shine On Me«: Das Deutsche Hygienemuseum Dresden zeigt eine Ausstellung über die Sonne und ihre Mysterien

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie ist eine große Unbekannte: die Sonne. »Wir sehen sie jeden Tag«, sagte die Astrophysikerin Nicola Fox, »aber wir wissen nicht viel über sie.« Zum Beispiel ahnt die Wissenschaft bisher höchstens, warum die Korona des gigantischen Heizkörpers heißer ist als sein Inneres. Vielleicht weiß man bald mehr. Mitte August schickte die NASA bei einer Mission namens »Parker Solar Probe« eine Sonde auf die Reise, mit der der Mensch der Sonne so nahe kommen will wie nie zuvor: bis auf sieben Sonnenradien, womit 96 Prozent der Entfernung zwischen der Erde und ihrem Zentralgestirn überwunden würden. In sieben Jahren soll das Ziel erreicht sein.

Während die originale Sonde mit 193 000 Metern in der Sekunde durch das All schießt, steht im Deutschen Hygienemuseum Dresden eine »Parker«-Nachbildung still in einer Ecke. Sie besteht aus Sperrholz, wurde vom Künstler Oliver van den Berg geschaffen und ist, sagt Catherine Nicols, Teil einer »Schwestermission« des NASA-Projekts: einer von ihr kuratierten und bis zum 18. August 2019 zu sehenden Ausstellung, die das Verhältnis zwischen Mensch und Sonne beleuchtet - ein »alles bedingendes« Verhältnis, wie der Museumsdirektor Klaus Vogel formuliert. Ohne die Sonne gäbe es kein menschliches Leben; ohne sie wüchsen keine Pflanzen; es wäre stockfinster; es wäre lange unmöglich gewesen, die Zeit zu messen. Der Ausstellungsstoff ist also ein sehr weites Feld, das Nichols in Anspielung auf die gleichzeitige Reise des Forschungsapparates strukturiert: Sie gliedert ihre Schau in »sieben Umrundungen«. Auch »Parker« wird die Sonne siebenmal umrunden, bevor er in ihr verglüht. Die Ausstellung liefert naheliegenderweise etliches an astronomischem Wissen. Die Sonne, ist zu erfahren, befindet sich etwa in der Mitte ihres Lebens: Entstanden vor 4,5 Milliarden Jahren, wird sie weitere fünf bis sechs Milliarden Jahre leuchten, bevor sie sich zu einem Roten Riesen aufbläht, dabei die Erde schluckt und dann als weißer Zwerg vergeht. Spuren aus ihrer Anfangszeit kann man noch hören: Ein kleiner Teil des »weißen Rauschens«, das in der Lücke zwischen zwei Sendern aus Radiolautsprechern tönt, ist so alt wie die Sonne. Dass deren Aktivität seit Urzeiten zu- und wieder abnimmt, zeigen die Ringe in einer 290 Millionen Jahre alten Baumscheibe, die alle elf Jahre breiter und wieder schmaler werden.

Doch die Sonne war für die Menschen seit jeher und überall weit mehr als ein Naturphänomen. Sie wurde vergöttert; für ihr alltägliches Auftauchen und Verschwinden fand man mythologische Erklärungen. In Ägypten etwa nahm man an, dass die Sonne jeden Abend von der Himmelsgöttin Nut verschluckt wird, durch ihren Körper reist und am Morgen von ihr neu geboren wird. Sonnenverehrung sei dabei »nichts Vergangenes«, betont Nichols. In Japan gilt die Sonnengöttin Amaterasu noch immer als Ahnfrau der Kaiserfamilie.

Auch dort, wo sie nicht mehr angebetet wurde, blieb die Sonne ein wichtiges Symbol. Eine berühmte Fotografie von Margaret Bourke-White zeigt Mahatma Ghandi sitzend hinter seinem Spinnrad, dessen Silhouette wie eine Sonne wirkt. Auch die Freiheitsstatue, die als Miniatur in der Ausstellung zu sehen ist, erinnert mit ihrem Strahlenkranz an die Sonne. Neben ihr liegen zwei Schallplatten: eine mit dem beliebten sowjetischen Jugendlied »Immer lebe die Sonne«; die andere mit einem der wichtigsten Lieder der Arbeiterbewegung, in dessen Titel Sonne und Freiheit quasi in eins gesetzt werden.

Jenseits religiöser Verehrung und symbolischer Überhöhung freilich hat die Sonne für den Menschen in vielerlei Hinsicht enorme praktische Bedeutung. In der zweiten der sieben Umrundungen können die Besucher der Dresdner Schau unterschiedliche Gerätschaften bestaunen, mit denen die Zeit im Lauf von Tag und Jahr gemessen wurde. Zu den faszinierendsten gehört das von Johann Lindner aus Nürnberg im Jahr 1596 konstruierte »astronomische Kompendium«, ein filigranes Meisterwerk aus Rädchen, Federn und Zeigern, das auch »Smartphone des 16. Jahrhunderts« genannt wird. Eine andere Abteilung beleuchtet die Wirkung der Sonne auf die menschliche Gesundheit - die förderliche ebenso wie die abträgliche. Eine Sequenz aus dem Film »Nosferatu« zeigt den Tod des Vampirs in den ersten Strahlen der Morgensonne. In einer Vitrine ist die »Evolution« der Sonnenbrille zu studieren: von den ledernen, mit Schlitzen versehenen Kästchen der Inuit bis zu verspiegelten Modeartikeln, die an Visiere an Helmen von Raumfahrern erinnern, oder Brillen für Hunde. Zugleich ist ausreichend Sonne wichtig für den Hormonhaushalt, den Schlaf und ganz generell die Gesundheit des Menschen. Ob Orangensaft wirklich gesünder ist, wenn er - wie auf einer Flasche beworben - eine Extraportion »Sonnen-Vitamin D« enthält, sei dahingestellt. Dass die Sonne jedoch Kraft gibt, verdeutlicht Joseph Beuys in seiner Installation »Capri Battery«: eine knallgelbe, sonnengereifte Zitrone, aus der zwei Drähte in eine gelbe Glühbirne führen.

Wie sich die Energie der Sonne tatsächlich nutzen lässt, können die Besucher in einer Forschungsstation untersuchen, die Nichols nicht nur für Kinder ersonnen hat, weshalb sie sie auch als »Denkräume für Junggebliebene« bezeichnet. In ihnen kann man sich zum Beispiel als Sonnenkönig kostümieren oder eine Sonnenuhr konstruieren. Derlei Räume gibt es in jeder der sieben Abteilungen. Diese sind zudem jeweils mit dem Titel eines berühmten Popsongs überschrieben. Die Reihe reicht von »Always the sun« von den Stranglers bis zu »Shine on, you crazy diamond« von Pink Floyd. Dass der »verrückte Diamant« weiter scheint - oder dass die Menschheit Bedingungen schafft, um sein Strahlen noch lange erleben zu können -, ist zu hoffen. Denn wie schrieb Ingeborg Bachmann im Jahr 1956 in einem berühmten Gedicht, das sie - in einem in der Ausstellung zu sehenden Video - selbst vorträgt? Es gebe »nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.«

»Shine On Me. Wir und die Sonne«. Ausstellung im Hygienemuseum Dresden. Bis 18.August 2019.

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