Kurt Henle (London, 2008)
Unbekannte Bekannte
Komm, Helene - wir gehen!» soll ich gerufen haben. Dabei ist mir bis heute, als sei ich damals, im Kriegsjahr 1940, auf das Gefangenenschiff Dunera beordert worden; als sei ich auf mich gestellt an Bord und acht Wochen später in Australien nur auf mich gestellt an Land gegangen. «Komm, Helene - wir gehen» - hatte ich ihm das wirklich zugerufen? Wie konnte ich derart Einschneidendes vergessen haben? Nicht einmal bewusst war mir, dass Kurt, den wir wegen seines Familiennamens Henle Helene riefen, dieser bescheidene, sich stets zurückhaltende Primus unserer Klasse im Internat, nur wenige Tage nach mir ins Liverpooler Internierungslager eingeliefert worden war. Wenn das zutraf, dann musste ich ihn an Bord der Dunera aus den Augen verloren und auch im australischen Wüstenlager von Hay nicht wiedergesehen haben.
Mehr als siebzig Jahre sollten verstreichen, ehe wir uns neu begegneten - da gab es keine Helene mehr, da hieß er auch nicht Kurt und nicht mehr Henle, sondern war bekannt als Keith Henley, hoch angesehener Professor der Medizin an der Universität von Ann Arbor in Michigan, USA - was bedeutete, dass da zwei ehemalige Internatsschüler mit sehr unterschiedlichen Werdegängen in London zusammengekommen waren.
«Nein, nein, glaub mir», betonte er heiter, «ohne dein ‚›Komm, Helene - wir gehen!‹ wäre ich nie nach Australien und später wohl auch nicht nach Amerika gelangt.»
Während er das behauptete, hatte ich Mühe, den ehrwürdigen Professor mit dem schütteren Haar, der inzwischen ein deutlich amerikanisches Englisch sprach und US-Amerikaner war, mit dem Mitschüler von damals überein zu bringen.
«Good to see you,», sagte er, und nahm im weiteren keinen Anstoß daran, dass ich in Deutschland lebte, dazu in Ostdeutschland gelebt hatte - was zwar out of the question für ihn gewesen sei, für mich offenbar das Gegebene. Trotz seiner Emeritierung, sagte er, sei er weiterhin wissenschaftlich tätig und forsche viel.
Er umriss sein Spezialgebiet, wobei er medizinische Begriffe für Leber- und Magenleiden tunlichst vermied. Er vermied es auch seine zahlreichen (von mir später im Internet entdeckten) Meriten zu erwähnen, ging aber ins Besondere, als ich den leicht gelblichen Teint seiner Haut ansprach. «Vietnam», sagte er, «dorthin fahre ich häufig, auch im Alter noch.» Wiedergutmachung sei zwar ein holpriges, seit dem Zweiten Weltkrieg aber ein recht gängiges Wort geworden.
Was er damit sagen wollte, begriff ich nicht gleich, dachte dabei auch nicht an Vietnam, doch dass er dort als Soldat gewesen sein könnte, verwarf ich sofort - nicht er, nicht unser Kurt.
«Weiß du», sagte er, weiterhin auf Deutsch, «was Amerika den Vietnamesen angetan hat, wiegt auf der Waage der Geschichte ebenso schwer wie die Naziverbrechen an den Juden.» Und dann erzählte er, zurückhaltend, wie ich ihn kannte, von drei medizinischen Einrichtungen in Vietnam, die er gegründet hatte und die bis zum heutigen Tag zu seinem Wirkungsfeld gehörten.
«Du wirst erfahren haben, wie gegen Ende des Vietnamkrieges Tausende wehrpflichtige Amerikaner ihr Hell no, we won’t go! in die Welt schrien, genau da formte sich in mir dieses Hell yes, I must go!
Den Begriff Wiedergutmachung zu wiederholen widerstrebte ihm allerdings. Dennoch sagte er: »Denn was Vietnam angeht, gibt es für Amerikaner - und zu denen zähle ich mich ja - über die Wiedergutmachung hinaus nur eins: Verpflichtung! Du verstehst mich?«
»Ich versteh dich«, versicherte ich ihm.
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