Tadelloses Gericht?
Der Fall des Müllers Arnold aus dem Oderbruch wurde vor den Schranken dieses Gerichts verhandelt. Der Betreiber einer Wassermühle klagte gegen deren Zwangsversteigerung, die ihn seiner Existenzgrundlage beraubt hätte. Das Berliner Kammergericht entschied gegen den Müller, worauf jener eine Eingabe an König Friedrich II. von Preußen schrieb. Der Monarch setzte sich tatsächlich für den fleißigen Arbeitsmann ein, ließ die Richter verhaften und kassierte das Urteil. So geschehen 1778. Der Fall begründete die Mär von der Güte und Gerechtigkeit Friedrichs gegenüber seinen Untertanen.
Das Kammergericht Berlin wird in diesem Jahr 550 Jahre alt. Aus diesem Anlass wurde vom jetzigen Kammergerichtspräsidenten Bernd Pickel eine von Michael Bienert verfasste Würdigung des in Juristenkreisen hoch angesehenen Gerichts herausgegeben. Erstmals 1468 urkundlich erwähnt, hat es diesen Tempel Justitias vermutlich schon einige Jahre zuvor gegeben. Es ist das einzige deutsche Gericht mit einer derart langen Tradition der Rechtssprechung. In seiner Funktion entspricht es den Oberlandesgerichten in den anderen Bundesländern der Republik.
Nur zwei Mal in seiner langen Geschichte hieß es kurzzeitig nicht Kammergericht. Selbst in der 40-jährigen Geschichte der DDR hielt man an dieser Bezeichnung fest. Es ist aus dem vom brandenburgischen Kurfürsten gegründeten Hof-Kammergericht hervorgegangen und hat seit 1913 seinen Sitz am Kleistpark in Schöneberg.
Bienert offeriert zahlreichen Anekdoten. Neben dem berühmten Fall des Müllers Arnold fand im Berliner Kammergericht auch 1820 der Prozess gegen den »Turnvater« und vermeintlichen Staatsfeind Friedrich Ludwig Jahn statt. Der gewissenhafte Kammerrichter und Dichter E.T.A. Hoffmann verneinte die Anschuldigung, Jahn wiegele die Jugend auf. Beim sogenannten Polenprozess von 1847, dem ersten für die Öffentlichkeit zugänglichen politischen Verfahren in Preußen, wurde gegen 254 Angeklagte verhandelt, denen man vorwarf, den polnischen Staat in den Grenzen von 1772, vor der ersten Teilung Polens, wiederherstellen zu wollen. Der Prozess endete mit acht Todesurteilen und hohen Gefängnisstrafen. Nach dem Ausbruch der Märzrevolution 1848 wurden die Patrioten amnestiert. Bienert erinnert sodann an die Spaltung der Justiz in Zeiten des Kalten Krieges, berichtet über RAF-Prozesse und den Mord an Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann 1974 durch Mitglieder der Bewegung 2. Juni.
Das Berliner Kammergericht gilt noch immer als ein Symbol der Rechtsstaatlichkeit. In der Nazizeit freilich repräsentierte es das Gegenteil. Dort verkündete der berüchtigte Vorsitzende des sogenannten Volksgerichtshofes, Roland Freisler, allein etwa 70 Todesurteile. Bienert geht darauf nur kurz ein. Schon 1933 verurteilte das Kammergericht Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Nazigegner. Es verhängte Todesurteile wegen »Feindbegünstigung«, »Wehrkraftzersetzung« oder »Landesverrat«. Über die furchtbaren Juristen, die auch kein Mitleid mit ihren jüdischen Berufskollegen zeigten, ist in diesem Band leider ebenso wenig zu erfahren.
Michael Bienert: Das Kammergericht in Berlin. Verlag für Berlin-Brandenburg, 192 S., geb., 26 €.
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