Massenhafte Identitätsverschleierung ist Hirngespinst

Nur für einen verschwindend kleinen Teil von Asylbewerbern ergaben sich aus Handydaten Widersprüche zu mündlichen Angaben

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass Asylbewerber systematisch ihre Identität zu verschleiern suchen, scheint für viele konservative Politiker eine ausgemachte Sache zu sein. Auch im Masterplan von Bundesinnenminister Horst Seehofer ist die Erwartung an eine Mitwirkungspflicht von Asylsuchenden mit gehörigem Nachdruck formuliert. »Wir wollen verhindern, dass Personen während oder nach einem Asylverfahren untertauchen oder ihre wahre Identität verschleiern. Das Ersuchen um humanitären Schutz und das Begehen von Straftaten schließen sich grundsätzlich aus.«

Nun ist das Verschleiern der eigenen Identität und das Begehen von Straftaten noch nicht dasselbe. Für die Autoren des Masterplans offenbar doch. Jedenfalls ist im Falle einer Verletzung der Mitwirkungspflichten »leistungsrechtliche Sanktionierung« vorgesehen. Dabei ist im real existierenden Gesetz längst formuliert, was im Masterplan mit neuem Nachdruck gefordert wird. Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, »im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen«, heißt es im Paragraf 15 des Asylgesetzes.

Der Eindruck, dass dem Schlendrian bisher mit aller Gesetzeshärte nicht beizukommen war, ist offenbar Kalkül. Dabei wurden nicht Kosten noch Mühe gescheut, der Identität der Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, auf die Spur zu kommen. Für 4,8 Millionen Euro wurden im vergangenen Jahr Geräte und Software zur Datenauslese angeschafft. Mit dem Ziel, die elektronischen Geräte der Delinquenten zu ihrer Überführung zu nutzen. Aber mit bescheidenem Ergebnis. Denn von den knapp 15 000 Flüchtlingen, die zwischen September 2017 bis Ende Mai 2018 keine Papiere vorlegen konnten, blieben gerade mal 100, bei denen nach dem Auslesen ihrer Handys oder Laptops Widersprüche zu ihren mündlichen Angaben über Identität und Herkunft blieben. Gemessen an den 230 000 Asylanträgen, über die in diesem Zeitraum entschieden wurde, ist dies eine kaum alarmierende Zahl. Und auch in den 100 Fällen ist nicht erwiesen, dass hier Asylbewerber beim Lügen ertappt wurden, denn über die Aufklärung der Widersprüche zwischen Handydaten und mündlichen Angaben kann die Bundesregierung keine Kenntnisse vorweisen, wie sie in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion bekannte. »Auch wenn die ausgelesenen Daten gegen die angegebene Herkunft sprechen, kann es im Einzelfall sein, dass es andere Erkenntnisse gibt, die letztlich zu einer Bestätigung der Herkunftsangabe führen.«

Als die Große Koalition im Zuge der Asylgesetzesverschärfung das Auslesen von Handydaten in die Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Flüchtlingen aufnahm, rief das breiten Protest hervor, weil damit auch die informationelle Selbstbestimmung betroffen war, die hierzulande ein hohes Gut ist. Verhindert wurde das Auslesen trotzdem nicht. In der Praxis werden nun elektronische Daten aller Asylsuchenden, die keine Passpapiere vorlegen können, ausgelesen und in einem »Datentresor« gespeichert - Telefonverbindungen oder Fotos etwa. Wenn dann im Asylverfahren Zweifel nicht ausgeräumt werden können, wird richterlich eine Entscheidung über die Auswertung der Handydaten herbeigeführt. Dies geschah im betrachteten Zeitraum bis Mai dieses Jahres bei rund einem Drittel der 15 000 Menschen ohne Papiere. In der Tatsache, dass daraus nur bei 100 Personen Widersprüche ermittelt wurden, zieht Ulla Jelpke den Schluss, damit ein verbreitetes Vorurteil entkräftet werde: »Ein Missbrauch oder falsche Angaben von Asylsuchenden in einer relevanten Größenordnung lassen sich damit gerade nicht belegen«, erklärte die Innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Die massenhaften Verletzung des Rechts auf informelle Selbstbestimmung sei daher unverhältnismäßig.

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