Mehr Puffen als Knallen
»LOMO: The Language of Many Others« ist weder abenteuerliche Irrfahrt noch Beziehungsdrama
Es habe sie gereizt, sagt Julia Langhof, Homers »Odyssee« in die Gegenwart zu übersetzen. Wenn das der ihrem Film zugrunde liegende Einfall war, ist nicht viel davon geblieben. Die Handlung trägt sich im gehobenen Berliner Milieu zu, Lichterfelde-West oder so. Arbeiterklasse findet nicht statt, und folglich sind die Erwerbssorgen von der Art, dass einer womöglich noch sein Haus verkaufen und zur Miete wohnen muss. Das in der Tat ist, worum Karls Vater sich sorgt, und Karl ist die Hauptfigur dieser Geschichte.
Irgendwie bekommt man mit, dass er neben Schule und debilem Dösen noch ein Blog betreibt und ein paar Follower hat. Was genau da passiert, erfährt man nicht. Karl weiß nicht, was er will, im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester Anna (irgendwas mit Wirtschaft). Die Handlung kommt in Gang, als Karl mit Doro schläft, aber bald von ihr abgewiesen wird. Er beschließt, sich dem Willen seiner Follower auszusetzen, die ihn via Headset steuern. Am Ende pufft das alles mehr, als es knallt.
Wie auch ihrer Hauptfigur fehlt dieser Geschichte ein Ziel. Rasch gesponnene Fäden verlieren sich ebenso rasch wieder. Konträr dazu ist das Setting überkonstruiert: Doros Mama ist die Vorgesetzte von Karls Papa, Doros Papa hat ein Verhältnis mit der Freundin von Karls Mama, Karls Schwester ist mit Karls bestem Freund zusammen, die Schule scheint bloß einen Lehrer zu haben. Verschränkungen schaffen Dynamik, nur die hier wären selbst für eine Kleinstadt unglaubwürdig. Und wir sind in Berlin, und das Thema sei die von den Weiten des Internets geprägte Welt. Selbst das wirkt bloß wie ein Dorf, womit ihm genommen ist, was seine eigentümliche Wirkung ausmacht. Im Kern scheint es um Überforderung zu gehen: Abgabe von Kontrolle als Befreiung, da das Überangebot der vernetzten Wirklichkeit permanent zu Entscheidungen zwingt. Als Karl endlich einmal weiß, was er will, erfährt er eine Niederlage und zieht sich vollends zurück.
Auch die Figurenbeziehungen bleiben mäßig entwickelt. Die Beziehung von Karl und seiner Schwester etwa (die eifersüchtig auf Doro zu sein scheint) hat eine erotische Komponente, bei der es darum geht, wer von beiden wen kontrolliert. Auserzählt wird das nicht. Das grundlegende Problem des Coming-of-Age-Genres lautet: Wie schaffe ich Interesse an einer Hauptfigur, die zu jung ist, um wirklich interessant sein zu können? Es gibt Lösungen. Man kann sie witzig machen, charmant, hochbegabt oder ihr ein Leiden verpassen. Karl führt sich einfach auf wie ein Arschloch, und seine Verschlossenheit ist schnell als Wichtigtuerei kenntlich, hinter der nichts steckt.
Solche Unzulänglichkeiten konstituieren den gesamten Film. Am Ende ist er weder ein Beziehungsdrama noch jene Odyssee. Folglich kann man sich nicht einmal richtig ärgern, dass der Trailer die Pointe schon verraten hat. Karls Fremdsteuerung bleibt bestenfalls episodisch. Die Chance war, den Widerspruch von Demokratie und persönlicher Freiheit luzide zu machen. Wie sehr sind unsere Handlungen noch unsere und nicht schon Ergebnis der Algorithmen, die bestimmen, was uns angezeigt wird? Macht die Zielgruppe den Filter oder der Filter die Zielgruppe? Das Individuum verschwindet, sehr zur Verblüffung der Verteidiger der »Freiheitlich demokratischen Grundordnung«, auch ganz ohne Diktatur. All das hätte erzählt werden können, doch man sieht nicht mehr als einen durchschnittlichen Jungen, dessen Verwerfungen nicht tief genug sind.
Daher auch greift das Thema nicht. Zu Odysseus gehört Gezwungensein. Er handelt, weil er muss. Karl handelt nicht, weil er gar nichts muss. Sein Ausgeliefertsein hat er selbst arrangiert. Die Fallhöhe von Homer ist enorm, aus den Irrfahrten wurden irre Fahrten.
»LOMO: The Language of Many Others«, Deutschland 2017. Regie: Julia Langhof. Drehbuch: Julia Langhof, Thomas Gerhold; Darsteller: Jonas Dassler, Lucie Hollmann, Eva Nürnberg. 101 Min.
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