Zwölf Jahre, still und erfolgreich

Sperrzone Murmansk - Michael Schmidt berichtet von einem deutsch-russischen Unternehmen, das niemand bejubelt

  • Jutta Grieser
  • Lesedauer: 5 Min.

Gute Nachrichten finden hierzulande und heutzutage keine Abnehmer in den Medien. Skandale und Katastrophen bringen bessere Quoten und höhere Auflagen, lautet offenkundig das Mantra. Komisch, die Fakten widersprechen dem, dennoch hält man daran fest. Ein Beispiel:

Berlin und Moskau schlossen 2004 ein Regierungsabkommen, um die Welt vor einer Umweltkatastrophe zu bewahren. In den Buchten der Ba-rentsee rostete das strahlende Erbe des Kalten Krieges vor sich hin: U-Boote, die nicht nur Nuklearwaffen trugen, sondern auch von Atomreaktoren angetrieben wurden. Reaktorspezialisten aus Greifswald/Lubmin bekamen den Regierungsauftrag, diese Zeitbomben zu entschärfen. Das taten sie über zwölf Jahre still und erfolgreich. Ein hinlänglicher Grund zum Jubeln, doch niemand beklatscht öffentlich die sichtbaren Resultate. Die Russen nicht, weil die Bilder der Welt zeigen, dass die Großmacht zwar Atom-U-Boote bauen und betreiben, nicht aber umweltfreundlich entsorgen kann. Die Deutschen nicht, weil sie in Nibelungentreue den von den USA gewünschten Sanktionen zum eigenen Schaden folgen. Da mochte man nicht aus der Reihe tanzen. Und die hiesigen Journalisten plappern brav nach, was ihnen die Agitationskommission in Gestalt des Mainstreams vorgibt. Da kann Matthias Platzeck als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums in seinem sachlichen, sympathischen Vorwort für das hier anzuzeigende Buch diese Kooperation als überzeugenden Beweis rühmen, »dass einerseits auch bei Interessengegensätzen und Konflikten mit Russland eine Zusammenarbeit möglich ist, und dass andererseits davon alle Beteiligten profitieren«. Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident dringt damit nicht durch, bleibt ein einsamer Rufer. Denn, wie schon gesagt, gute Nachrichten finden keine Abnehmer.

Michael Schmidt, Autor des vorliegenden Reports, studierte an der Leipziger Karl-Marx-Universität Journalistik, war dann in Berlin-Adlershof beschäftigt, wechselte nach der »Wende« nach Mecklenburg-Vorpommern und kam beim NDR unter. Zunächst vielleicht als Quoten-Ossi, zunehmend aber als wichtige In-stanz, wenn es um fundierten Journalismus ging. Er wurde sogar Chef vom Dienst beim Sender in Schwerin. Und bekam dann den Auftrag »von oben«, in die Sperrzone bei Murmansk zu fahren. Er war der einzige deutsche Journalist, den die Russen vorließen, vermutlich weil er leidlich ihre Sprache beherrschte und eben aus einer Gegend kam, die früher mal »GDR« (DDR) hieß. Zudem kannte er die Leute aus Lubmin, hatte sie bereits in den 1990er Jahren journalistisch begleitet, als sie ihre Arbeitsstelle entsorgten. Sie waren die ersten Kernkraftwerker weltweit, die ein AKW demontierten. Das - und ihr Studium in der Sowjetunion - qualifizierte sie hinlänglich für die ihnen dann zugewiesene Aufgabe im hohen Norden Russlands.

Dass der NDR dorthin Schmidt häufig mit einem Drehstab schickte, hing mit der Sorge der Finanziers in Berlin zusammen. Die wollten natürlich wissen, ob einige Hundert Millionen Euro auch ausgegeben wurden für den Zweck, für den sie gedacht waren, und nicht auf Oligarchenkonten verschwanden. So entstand in über zwölf Jahren eine Langzeitstudie, die hier zu Papier gebracht ist. Es ist ein Zeugnis, das seinesgleichen sucht. Schmidt ist kundig und neugierig, was zu den wichtigsten Voraussetzungen seiner Zunft gehört, aber zu großen Teilen dem Gewerbe inzwischen abhandengekommen zu sein scheint. Journalist ist so wenig ein geschützter Beruf wie der des Schauspielers. Jeder kann sich so nennen, der einen Stift oder die Nase in eine Kamera halten kann. Auf Neudeutsch heißt das »old school«, was Schmidt betreibt, und mit allem Recht rühmt Matthias Platzeck dessen solide Dokumentation aus der Saida-Bucht auf der Kola-Halbinsel. Er hebt diese gar auf die politische Ebene: »Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, so muss man nüchtern konstatieren, dass es dem Frieden und dem Wohlstand auf unserem Kontinent immer zuträglich war, wenn Russen und Deutsche und Deutsche und Russen sich verbündeten und vernünftig miteinander umgingen. Und dass sich die Völker nicht aus ideologischen Gründen aufeinanderhetzen lassen dürfen wie während des Zweiten Weltkrieges oder im Kalten Krieg. Die Schäden sind gewaltig, sie zu beheben, kostet noch einmal so viel.«

Schmidts seismografische Beobachtungen vermitteln viel über den aktuellen Zustand der deutsch-russischen Beziehungen. Er sprach mit deutschen Managern, denen er in russischen Betrieben begegnete und die sich deutlich vom modischen »Russen-Bashing« distanzieren. »Einige lehnen es mittlerweile ab, deutschen Zeitungen in Interviews ihr positives Verhältnis zu Russland zu erklären. Sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen bedeutet nicht, alles toll zu finden« schreibt Schmidt. »Es heißt nicht, Putins damaligen Krieg in Tschetschenien gutzuheißen noch seinen Umgang mit politischen Oppositionsgruppen oder Homosexuellen zu tolerieren. Es bedeutet nur eines: die Motive für das Handeln politisch Verantwortlicher herauszufinden.« Sanktionen bringen nichts, im Gegenteil, zwingen Russland sich der eigenen Kraft zu besinnen: »Zum langfristigen Nachteil gerade für deutsche Unternehmen.«

Das nächste große Ziel der Firma aus Ostdeutschland heißt Nowaja Semlja, 90 000 Quadratkilometer zwischen Barentsee und Karasee. Zwischen 1955 und 1990 wurden dort 130 Atombomben »getestet«. Im Nordpolarmeer liegen ein Reaktor des Atomeisbrechers »Lenin«, der bedenkenlos versenkt wurde, und atomarer Müll unterschiedlicher Strahlungsintensität, Reaktorsektionen mit und ohne Kernbrennstoff; ganze U-Boote verrotten auf dem Meeresgrund. 24 000 Objekte sind es insgesamt, die in der Arktis eine katastrophale Umweltverseuchung auslösen können. Die Gefahr ist akut. Fünf EU-Länder bereiten sich seit Februar 2014 auf den gemeinsamen Einsatz mit Russland vor. Warum sich die Sache derart hinzieht? Wir ahnen es ...

Michael Schmidt: Sperrzone Murmansk. Wie Russland seinen Atomschrott entsorgt. Das Neue Berlin, 224 S., br., 14,99 €.

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