Wenn sich Mensch und Tier im Kapitalismus begegnen
Der Dokumentarfilm »Auf der Jagd - Wem gehört die Natur?« zeigt die seltsame Jägerszene
Um den Dokumentarfilm »Auf der Jagd« maximal auf sich wirken zu lassen, empfehle ich, ihn an einem heißen Frühlingstag in einem Kino am Stadtrand anzuschauen. Über den Weg dorthin sollte man sich nicht allzu genau informiert haben; Linien des öffentlichen Nahverkehrs, die einerseits stark von Touristen frequentiert werden, andererseits aber von Baustellen durchlöchert und von allerlei Umleitungen, Ersatzverkehren und alternativen Streckenführungen geplagt sind, wähle man. Nur so ergibt sich der maximale Kontrast zum gerade noch brutalstmöglich hochgepegelten Alltagsbewusstsein, wenn man die ersten 15 Minuten des Films schön verpasst hat und vollverwirrt in den Sessel sinkt, während auf der Leinwand - nichts passiert.
Na ja, nicht ganz nichts: Blätter rauschen. Vögel zwitschern. Ein süßer Dackel schaut gelangweilt drein. Man begreift: Es ist ein Hochsitz. Mittendrin wie ein kostbares Ei im Nest ein andächtiger Waidmann. Es ist wirklich wie im Arthouse: Als er dann redet, wünscht man sich sofort Untertitel für das gehauchte Problembärenbayrisch. Wenn man nur ein ganz klein bisschen Freude an eigenbrötlerischen Subkulturen hat (Eisenbahner, Fantasy-Rollenspieler, Eckkneipenstammgäste), ist man sofort verliebt wie Eber und frisch gebrochenes Zweiglein. Das macht der Film wunderbar: die Jägerszene zeigen als hoch verseltsamte, zwergendörfische, volkskünstlerische Angelegenheit.
Später taucht unvermittelt eine königliche Hoheit auf, die fabuliert, wie man in ihrer Kindheit noch Gämsen an den Hängen mit bloßem Auge habe zählen können. Ebenfalls etwas unvermittelt paddeln Indianerinnen im Flecktarn heran, röhren durch Röhren und essen irrsinnig viel Fleisch. Beim Philosophieren darüber, dass man die Tiere ja leider tötet und warum das leider sein muss, wird der Hochstand einige Male filmisch sehr berührend zum Beichtstuhl umgebaut.
Einen Nachteil hat die hier vorgeschlagene Rezeptionshaltung aber: Man wird den Film für etwas lieben, das er gar nicht sein will. In Wahrheit handelt es sich dann doch nicht um einen Wenzel-Storch-/Schlingensief-Hybriden, sondern einen relativ ernsten Dokumentarfilm, der etwas über den Bambiblick auf einen Naturraum erzählen will, der in Wahrheit längst durchkalkulierter Wirtschaftsraum ist. Auch die Fragen, ob nicht Massentierhaltung am Ende schlimmer ist als das vergleichsweise wenige Tiere betreffende Jagen und ob Gesetzgebungen mit Abschussquoten sinnvoll seien, werden angesprochen. Was passiert, wenn sich Mensch und Tier im Kapitalismus begegnen, lautet ungefähr die Leitfrage.
Schöner sind freilich die wispernden Gamsbartträger und die stark lachenden Indianerinnen als Begegnungen mit Eigensinn im plötzlich zur Waldkathedrale beziehungsweise zum Flying Circus gewordenen Kinosaal. Aber so ist am Ende für jeden etwas dabei, und niemand muss, wie die Gämsen der Monarchin, letal vergrämt sein.
»Auf der Jagd - Wem gehört die Natur?«, Deutschland 2018. Buch und Regie: Alice Agneskirchner. 100 Min. Die Dokumentation ist derzeit in ausgewählten Kinos zu sehen.
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