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Vorsicht beim Brötchenkauf!

  • Lesedauer: 2 Min.

Als vor 85 Jahren die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden in Deutschland staatliche Formen annahm, war es lange noch nicht so, dass alle in der Gesellschaft dem antisemitischen Wahn folgten, man müsse alle Juden ermorden. Im Gegenteil: Die Mehrheit, hätte man ihr 1933 den Plan eines industriell betriebenen Massenmordes unterbreitet, hätte mit Empörung, mindestens aber mit Distanz reagiert. Es waren die kleinen Schritte, die Kenntlichmachung der Juden mit einem Stern etwa, ihre Entfernung aus öffentlichen Ämtern, ihre Vertreibung aus der Arbeitswelt und den gesellschaftlichen Institutionen, die dem Holocaust den Weg bereiteten (wobei, das muss hier betont werden, kein Automatismus nach Auschwitz führte!).

Es begann alles damit, dass die Menschen sich immer unsicherer fühlten, wenn Juden in der Nähe waren. Konnte man ihnen noch trauen? Man hatte in der Zeitung ja so viel Schlechtes über Juden gelesen. Sicherlich, für den jüdischen Nachbarn würde man bürgen, aber für alle Juden? Sehr wahrscheinlich gab es Menschen, deren Aussehen dem Klischee eines Juden entsprach und denen vermehrt Ressentiments entgegenschlugen, die sich beispielsweise in misstrauischen Seitenblicken in der Schlange beim Bäcker äußerten. Und sehr wahrscheinlich gab es andere Menschen, nationalliberale Politiker gar, die das Ressentiment in ein politisches Argument verwandelten. Niemand, so sagten diese Liberalen dann, könne sich sicher sein, ob neben einem in der Schlange beim Bäcker ein Jude stehe, der sich an die Gesetze halte, oder einer, der Wucherzinsen verlange und ein Schlitzohr sei. Nicht dass man alle Juden deshalb verurteilen wolle, wurde dann vermutlich rasch hinterhergeschoben, aber damit die Gesellschaft befriedet sei, müssten alle anderen in der Reihe sich sicher sein, dass in der Warteschlange nur solche Juden stünden, die der Gesellschaft zumutbar seien. Das müsse die Aufgabe einer Politik sein, die die Interessen des Volkes im Blick habe.

Vor Wochenfrist meinte der Parteivorsitzende der FDP, die vormals eine liberale Partei war: »Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer. Damit die Gesellschaft befriedet ist, müssen die anderen, die in der Reihe stehen, damit sie nicht diesen einen schief anschauen und Angst vor ihm haben, sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich auch legal bei uns aufhält. Das ist die Aufgabe einer fordernden, liberalen rechtsstaatlichen Einwanderungspolitik.« jam

Foto: imago/Westend61

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