Wiederbelebung mit Folgen
Polen: Der Umbau des Schulsystems verläuft alles andere als unproblematisch
Vor einem Jahr strömten Tausende Lehrer und Eltern auf die Straßen, um ihren Unmut über die Bildungsreform der PiS zu äußern. Damals beteiligten sich an den landesweiten Protesten mehr als 6000 Schulen, was ungefähr 37 Prozent aller Schulen zwischen Oder und Bug entsprach. Es war der größte Lehrerstreik seit zehn Jahren.
Bildungsministerin Anna Zalewska versuchte damals, die erhitzten Gemüter mit der Ankündigung einer Gehaltserhöhung abzukühlen. In der Tat verdienen Schullehrer seit diesem Monat etwas mehr. »Wir beginnen mit einer fünfprozentigen Lohnerhöhung, weitere werden folgen«, verspricht Zalewska. Solche Aussagen sind natürlich mit reichlich politischem Zuckerguss überzogen, wenn man bedenkt, dass junge Lehrer jetzt lediglich 30 Euro mehr verdienen.
»Alles in allem verdienen Lehrer heute circa 600 Euro - ohne Abzüge. Wenn wir Steuern und Versicherungen abziehen, bekommen sie 400 Euro. Zudem hat Zalewska beschlossen, dass junge Pädagogen noch langsamer in höhere Gehaltsklassen aufsteigen. Das ist doch ein Witz«, empört sich Sławomir Broniarz, Vorsitzender der Polnischen Lehrergewerkschaft (ZNP). Zwar erhalten ältere Lehrer etwas mehr Geld, aber auch deren Gehälter liegen unter dem polnischen Durchschnitt. »Die Medien verbreiten Unsinn über die Höhe unserer Gehälter. Wenn ich in der Zeitung lese, dass ein Lehrer 1500 Euro verdient, dann frage ich mich, wer das sein soll«, ärgert sich der Grundschullehrer Wojciech Grajkowski. Es ist daher nicht verwunderlich, dass am vergangenen Samstag wieder unzählige Pädagogen die hauptstädtischen Straßen belagerten. Unter dem Motto »Mamy dość!« (Es reicht!) hatte der ZNP zu einer abermaligen Demonstration aufgerufen. Den Lehrern geht es vornehmlich um ihre Gehälter und Arbeitsplätze, den Eltern dagegen um ihre Kinder, die ebenso die Veränderungen zu spüren bekommen.
Die seit September 2017 wirksame Reform sieht eine Abschaffung der dreijährigen Mittelschule (des sogenannten »gimnazjums«) sowie eine Rückkehr zur achtjährigen Grundschule vor. Die Wiederbelebung der achtjährigen »podstawówka« gemahnt noch an die Zeiten der Volksrepublik, gegen die Polens Nationalkonservative sonst auf allen Ebenen zu Felde ziehen.
Die Umstrukturierung des Schulsystems gestaltet sich offenbar alles andere als unproblematisch. Die Zeitung »Rzeczpospolita« schlägt Alarm: »Schüler haben nach den letzten Sommerferien teilweise andere Lehrer in ihren Klassenräumen vorgetroffen oder mussten feststellen, dass ihre Lieblingsfächer abgeschafft wurden. Partnerschaften mit ausländischen Schulen wurden plötzlich gekappt. Die Kinder sind der neuen Situation nicht gewachsen«.
Überfordert sind die ehemaligen Gymnasiasten auch mit der Umgestaltung ihrer Lehrpläne. »Die Curricula sind vollends überladen. In manchen naturwissenschaftlichen Fächern wurde der Stoff von ehemals drei Jahren in zwei gequetscht«, so die »Wyborcza«-Redakteurin Magdalena Warchala. Von der Reform betroffen sind rund 7500 Schulen, deren Schicksal vielerorts noch ungeklärt bleibt.
Tausende Pädagogen bangen entweder um ihre Arbeitsplätze oder sind krankgeschrieben. »Nicht nur, dass junge Lehrer gar nicht mehr wissen, wie sie bis Monatsende überleben sollen, sie beginnen auch, an ihrer erhabenen Berufung zu zweifeln, werden depressiv. Im Supermarkt verdient man inzwischen mehr als in einer Schule«, meint Ewelina Piątkowska, eine Lehrerin aus Gdańsk.
Der Erfolg oder Misserfolg der Schulreform lässt sich indes erst in einigen Jahren wirklich abschätzen. Konfus war die Lage nämlich auch schon im Jahr 1999, als die Gymnasien eingeführt wurden. Viele der heute verärgerten Pädagogen protestierten damals noch gegen die neue Mittelstufe. Zu ihnen gehörte ebenso der 60-jährige Broniarz. Heute glaubt der Verbandschef, die Gymnasien hätten sich vortrefflich entwickelt.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.