Selbst im fernen Sibirien ist man digitaler

Die Berliner Freunde der Völker Russlands informierten sich über deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen

Im Berliner Haus der Russischen Wissenschaft und Kultur ist zu jeder Tageszeit etwas los: Konzerte, Filmvorführungen, Kolloquien, Deutsch- und Russischkurse und - na klar - Schachturniere und Ballett. Mehrere Vereine haben hier ihren Sitz, beispielsweise ein von ehemaligen »Blokadniki«, Überlebenden der deutsch-faschistischen Blockade Leningrads, gegründeter (»Dialogi«) sowie die Berliner Freunde der Völker Russlands. Letztere informierten sich jüngst über deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen.

Zunächst gab Horst Aden einen historischen Überblick, bis zurück zu Zar Peter I., »dem Großen«. Schon dessen Vater sei an Austausch mit dem Westen interessiert gewesen, der Sohn intensivierte diesen enorm. Der Gründer der Petersburger Akademie (1724) habe nachweislich zwei Mal mit dem deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz gesprochen, der zwei Dezennien zuvor die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin ins Leben gerufen hatte. Aden, der in Leningrad Physik studiert und im Rechenzentrum der Staatlichen Plankommission der DDR gearbeitet hat, wusste von einer gedeihlichen deutsch-russischen Wissenschaftskooperation zu berichten - bis zur Entlassung des klugen Bündnispolitikers Otto von Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. In der Weimarer Republik sei an diese - trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme - in vielfältigster Form angeknüpft und gar noch in den ersten Jahren der Nazidiktatur fortgeführt worden.

Stellvertretend für wiedererwachtes deutsches Interesse nach dem Zweiten Weltkrieg an Forschungen sowjetischer Wissenschaftler nannte Aden den 1908 in Baku geborenen, 1938 von Stalins Geheimdienstbütteln verhafteten und 1968 in Moskau gestorbenen Nobelpreisträger Lew Landau, dessen zehn Bände über Theoretische Physik auch in einem Verlag in Frankfurt am Main erschienen sind. Als zweites Beispiel enger Wissenschaftsbeziehungen erwähnte er das Alfred-Wegener-Institut, benannt nach einem deutschen Meteorologen, Polar- und Geowissenschaftler, das mehrere gemeinsame Arktis- und Antarktis-Expeditionen bestritt.

Die aktuelle Situation beleuchtete Alexander Rusinov, der in Göttingen und Hamburg studierte und seit 2014 an der russischen Botschaft in Berlin für Bildung und Wissenschaft zuständig ist. Der Botschaftsrat stellte das neue Abkommen zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit vor, das nur noch der Unterschriften der zuständigen Minister der Russischen Föderation und der Bundesrepublik harre. Im November vergangenen Jahres sei eine »Roadmap« für die nächsten zehn Jahre präsentiert worden, die mehrere Großprojekte, sogenannte Megascience, beinhalte wie etwa den Röntgenlaser European XFEL in einem 3,4 Kilometer langen unterirdischen Tunnel in Schenefeld bei Hamburg, der Einblicke in den Nanokosmos ermögliche und viel leistungsfähiger sei als eine ähnliche Apparatur in den USA, da er 27 000 helle Blitze pro Sekunde liefere. Die 1,2 Milliarden Euro teure Anlage, an der elf Länder beteiligt sind und Russland allein mit 27 Prozent (was man aus hiesigen meinungsbildenden Medien leider nicht erfährt), soll dreidimensionale Detailaufnahmen von Molekülen, Zellen und Viren liefern. Vom interessierten Publikum nach dessen Nutzen befragt, verwies Rusinov auf die Erforschung neuer Medikamente. Die Abkürzung XFEL steht für X-Ray Free-Electron Laser. Auch bei Darmstadt gebe es ein derartiges, vereinten Fleißes und Schweißes entsprungenes Gerät sowie zudem zwei weitere ähnliche Anlagen auf russischem Territorium.

Für echte Überraschung bei den Zuhörern sorgte Rusinov mit der Zahl 948 - so viele Partnerschaften bestehen nach seinen Angaben zwischen deutschen und russischen Hochschulen und Universitäten. Die Frage des »neuen deutschland«, ob die Wissenschaftskooperationen auch unter den westlichen Sanktionen leiden, verneinte der Botschaftsrat. Als »nd« wissen wollte, was dran sei an den vor allem von London und Washington artikulierten Vorwürfen russischer Giftanschläge und Hacker-Angriffe, antwortete der Diplomat diplomatisch: »Ich bin studierter Jurist. Und als erstes haben wir beim Studium gelernt: Wo sind die Beweise? Punkt.« Aden ergänzte, selbst britische Experten hätten mittlerweile eingeräumt, dass die Quelle, aus der das gegen den Ex-Spion Skripal und dessen Tochter verwandte Nervengift Nowitschok stamme, ungewiss sei. Nicht ohne Stolz bemerkte Rusinov, deutsche Gäste seien in Moskau immer wieder über die Schnelligkeit des russischen Internets überrascht. »Und ja, das gilt selbst für entlegene Orte in Sibirien!« Darum dürften die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern die »Sibirjaki« wohl beneiden. »Sibirjak« hieß übrigens ein Fernzug, der von Berlin durch Polen, Belorussland und Russland bis nach Kasachstan führte und von der Deutschen Bahn 2013 eingestellt wurde.

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