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Abschied von einem Provisorium

Zweitgrößte Flüchtlingsunterkunft der Stadt schließt - Anlass für Dank und kritische Bilanz

  • Lesedauer: 3 Min.

Es waren emotionale Bilder, mit denen die ehemalige Notunterkunft für Flüchtlinge in Karlshorst ihre Abschiedsveranstaltung eröffnete: Ein Film zeigte Flüchtlinge 2015 in Budapest, die sich zu Fuß auf den Weg gen Norden zur ungarisch-österreichischen Grenze machten. Ihr herzlicher Empfang auf dem Bahnhof in München wurde gezeigt, so wie ihr Empfang in Karlshorst, wo zu dieser Zeit eine Notunterkunft für 1000 Flüchtlinge öffnete. Schließlich der Abschied der Bewohner in Karlshorst.

Vor wenigen Wochen hatte das Provisorium auf einem ehemaligen Telekom-Gelände als eine der letzten Berliner Notunterkünfte ausgedient, und die Flüchtlinge konnten in Heime ziehen, in denen es vernünftige sanitäre Bedingungen gibt und sie ihr Essen selbst kochen können.

Am Freitag wurde in Karlshorst gemeinsam Abschied gefeiert - mit rund 200 ehemaligen Mitarbeitern, Ehrenamtlern und Bewohnern. Flüchtlinge und das DRK, das die Notunterkunft betrieben hat, luden zu arabischen Tänzen und orientalischem Essen ein.

»Ich bin froh, dass ich jetzt ein neues Zuhause habe«, sagt ein Mann aus Syrien. In Karlshorst habe er mit sechs Männern ein Zimmer teilen müssen, das nicht abschließbar war. Duschen waren auf dem Hof und das Wasser oft kalt, die Toiletten schmutzig. »Jetzt teile ich ein Zimmer mit nur einem Mann und mit zwei weiteren Männern Dusche und Toilette. Ich kann auch die Tür hinter mir zumachen und mein Essen selbst kochen.«

Noch im Sommer 2017 hatte das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten geplant, die Karlshorster Notunterkunft in eine Gemeinschaftsunterkunft umzuwandeln. Ein Kostencheck hatte jedoch ergeben, dass da mehr Bauarbeiten nötig gewesen wären als nur der Einbau von Sanitärräumen und Küchen. Jetzt soll am Standort nach dem Auszug der Bewohner völlig neu gebaut werden. »Es wird Standort einer unserer modularen Unterkünfte für 500 Flüchtlinge. Und es entsteht auch Wohnraum für andere Berliner«, verrät Bezirksbürgermeister Michael Grunst (LINKE) dem »nd«. Beeindruckt zeigt er sich von der ehrenamtlichen Arbeit der Karlshorster: Die Fahrradreparaturwerkstatt, der Deutschunterricht und die Kleiderkammer zeugten von einem beispiellosen Engagement. »Ich werde mich dafür einsetzen, dass zumindest die Fahrradwerkstatt auf dem Areal bleiben kann, damit ehrenamtliche Strukturen nicht zerstört werden, wenn sie später wieder gebraucht werden.«

Es liegt wohl am Charakter einer Abschieds- und Dankeschönveranstaltung, dass Probleme in der Einrichtung nicht zur Sprache kamen. Doch die gab es. Letzten Sommer hatten sich ehemalige Mitarbeiter der Unterkunft in einem offenen Brief an Behörden gewandt und Missstände vor Ort benannt. Sie beschrieben ein Klima der Angst unter Bewohnern und Mitarbeitern vor der Heimleitung und ein weitgehendes Fehlen von Standards der sozialen Arbeit. Stattdessen sollen dem Brief zufolge Sozialbetreuer hauptsächlich zu Kontrolltätigkeiten gegenüber den Bewohnern herangezogen werden, was das Klima der Angst verstärkte. »Die Angst der Heimleitung vor Kritik führte dazu, dass externe Akteure wie das Jugendamt nicht als unterstützende Partner, sondern als potenziell gefährliche Eindringlinge gesehen wurden. Die Heimleitung war darauf bedacht, die Zusammenarbeit mit ihnen zu vermeiden und zu diesem Zweck den Eindruck zu erwecken, dass es in der Notunterkunft keinerlei Probleme und dementsprechend auch keinen Handlungsbedarf gebe«, heißt es in dem Brief, der »nd« vorliegt. Zudem hätte es Hausverbote gegeben, etwa gegenüber Mitgliedern der FDP Lichtenberg, die sich ehrenamtlich engagieren wollten.

Einer Mitautorin des Briefes zufolge gab es ein Treffen der Briefautoren mit Staatssekretär Daniel Tietze (LINKE), der sich sehr betroffen gezeigt hätte. Beide Seiten hätten allerdings Vertraulichkeit über die Gesprächsinhalte vereinbart und wollen sich darum nicht weiter äußern.

Bezirksbürgermeister Grunst sagte dem »nd«, dass es nach dem Brief sowie offenen Briefen von Bewohnern an den Integrationsausschuss des Bezirkes Gespräche mit dem Betreiber und auch Verbesserungen gab. Er beschreibt die Briefe als »eine Mischung aus tatsächlichen Mängeln und Denunziation«.

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