- Politik
- Freitagsproteste in Gaza
Die Trittbrettfahrer von der Hamas
Bei den Protesten im Gaza-Streifen ist die islamistische Organisation nicht tonangebend, meint Ute Beuck
Entlang der Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel befinden sich fünf Zeltstädte, in denen Palästinenser*innen ihr Recht auf eine Rückkehr ins heutige Israel einfordern. Internationale Medien waren in den vergangenen drei Wochen gefüllt mit Berichten über Steine werfende und Reifen verbrennende palästinensische Jugendliche und Zahlen von Toten und Verletzten. Jedoch war wenig darüber zu lesen, wofür dieser »Rückkehrmarsch« den eigentlich steht.
Entstanden ist die Idee im vergangen Jahr durch eine Einzelperson, die auf Facebook den Gedanken äußerte, wie es wäre, wenn 100.000 Menschen aus Gaza auf die Grenze zugingen. Diese Vorstellung verbreitete sich rasant in den sozialen Medien und innerhalb kurzer Zeit bildete sich eine Gruppe aus parteiungebunden jüngeren Menschen, die diese Idee weiterentwickelte. Sie entwarfen ein Grundsatzdokument, das auf Prinzipien der Gewaltfreiheit und einer breiten Beteiligung der Bevölkerung basiert. Sie riefen damit zu friedlichen Aktionen auf, um ihr Recht auf Rückkehr einzufordern. Wie bei den meisten Massenbewegungen ist es auch hier schwer einzuschätzen, welche einzelnen Schritte im Verlauf der Ereignisse zu welchem Ergebnis geführt haben. Aber zum 30. März wurden entlang der Grenze Zelte aufgebaut, die nicht nur Ausgangspunkte der durch die Medien berichteten Freitagsaktionen sind, sondern in denen bis heute auch unter der Woche diverse Aktionen und Veranstaltungen wie Vorlesungen, Workshops, Lesegruppen und kulturelle Aktivitäten stattfinden. Besucht werden diese Zelte von Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, wenngleich junge Menschen klar überwiegen.
Es kann mit Recht gesagt werden, dass die Hamas erst nach den Aktionen am ersten Freitag ein größeres Interesse an dem Marsch entwickelte. Seitdem versucht sie, eine größere Rolle in der Organisation einzunehmen. Bis heute ist die Hamas aber nicht die entscheidende Kraft. Zehntausende unbewaffnete palästinensische Demonstrant*innen sind nicht ihre Marionetten oder die anderer politischer Fraktionen.
Die Gründe für die Aktionen sind vielfältig: Sie liegen in den 70 Jahren seit der Nakba, der Gründung des Staates Israel, die dazu führte, dass heute rund zwei Drittel der zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen Flüchtlinge oder Nachfahren von Flüchtlingen sind, deren Leben noch immer von diesem Status bestimmt wird - immer unerträglicher werdende Lebensbedingungen unter der anhaltenden Besatzung und der seit elf Jahren andauernden fast kompletten Abriegelung. Die Aktionen sind aber auch ein Zeichen für die zunehmende Frustration der Bevölkerung mit den palästinensischen Parteien, des Stillstands in der Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas, der Korruption in den Eliten und ihrer Kollaboration mit Israel.
Ausschlaggebend für die Idee des Rückkehrmarschs war die Ankündigung von Präsident Donald Trump, die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Auch wenn weder die Entscheidung an sich noch ihre eventuelle Umsetzung an der real existierenden politischen Situation etwas ändert, ist sie doch für die meisten Palästinenser*innen ein unübersehbares Signal, dass ihre - auf internationalem Recht basierenden - Forderungen ignoriert werden und ihre Stimme nicht mehr gehört wird. Die Entscheidung für sechswöchige Aktionen entlang des Grenzzauns war ein politischer Versuch, die von Israel aufgezwungene äußere sowie eine interne Blockade zu durchbrechen. Wenn die Ereignisse etwas bewirkt haben, dann dass auf die Probleme in Gaza wieder international aufmerksam gemacht wurde. Somit kann die Situation nicht dauerhaft und stillschweigend durch Israel gemanagt werden.
Gegenwärtig wird unter den Beteiligten des Rückkehrmarsches diskutiert, die Aktionen nicht nach sechs Wochen zu beenden, sondern eine Strategie zu entwickeln, die unter anderem eine neue und unabhängige palästinensische Führung und neue Lösungsmöglichkeiten des Nahostkonflikts beinhaltet. Unabhängig davon, wie die Aktion enden wird, hat sie deutlich gemacht, dass die Blockade des Gaza-Streifens nicht verschwinden wird - und dass auf internationaler Ebene andere Wege als die in der Vergangenheit gegangenen beschritten werden müssen, um den Nahostkonflikt nachhaltig und friedlich lösen zu können.
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