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Aufbruch in eine neue Ära

Im Jahr des 275. Orchestergeburtstags hat Andris Nelsons sein Amt als Gewandhauskapellmeister angetreten

  • Dietrich Bretz
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehr als drei Jahre sollten verstreichen, bis das ehrwürdige Amt des Leipziger Gewandhauskapellmeisters nach Riccardo Chaillys vorfristigem Abgang jetzt mit dem Letten Andris Nelsons besetzt werden konnte. Mit dem 39-Jährigen steht nunmehr einer der weltweit renommiertesten Dirigenten seiner Generation am Pult des ältesten bürgerlichen Orchesters Deutschlands. Seine Amtsübernahme - zumal nach der 27 Jahre währenden Ära Kurt Masurs und der zwischenzeitlichen Verpflichtung von Herbert Blomstedt - markiert auch einen Generationswechsel.

Nelsons, der seine musikalische Laufbahn als Trompeter im Orchester der Lettischen Nationaloper Riga begann, bereits mit 24 Jahren deren musikalischer Leiter wurde und heute Chef des berühmten Boston Symphony Orchestra ist, will sich neben dem Standardrepertoire verstärkt auch für zeitgenössische Musik engagieren. Dass sein Antritt als 21. Gewandhauskapellmeister in den Zeitraum des 275. Geburtstages des Klangkörpers am 11. März fällt, ist geradezu ein Glücksfall. Grund genug für das Gewandhaus, einen facettenreichen Konzertreigen im Umfeld des Jubiläums zu programmieren und eine instruktive Ausstellung zu eröffnen. Anlass auch, mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern unter Vassily Petrenko bzw. Daniel Barenboim zwei weltberühmte Orchester zum Auftakt und Finale der Jubiläumsfestwochen einzuladen.

Den Hauptteil der Jubiläumskonzerte jedoch bestreiten selbstredend die Gewandhausmusiker. Mit ihnen präsentiert Nelsons zwölf Konzerte mit fünf unterschiedlichen Programmen sowie ein Familienkonzert. Wobei er den zeitlichen Bogen spannt von J. S. Bach und Mozart über Wagner und Tschaikowski bis hin zu Bernd Alois Zimmermann und dem 1973 geborenen Jörg Widmann. Werke der mit der Leipziger Musikhistorie verbundenen Komponisten wie Mendelssohn, Bruckner oder Brahms stehen ebenso im Spielplan wie Klassiker des 20. Jahrhunderts und etliche Uraufführungen von Auftragswerken des Orchesters. Dass mit Widmann einer der bekanntesten zeitgenössischen Komponisten zum Gewandhauskomponisten gekürt wurde, ist ein Novum in der Programmpolitik.

Nelsons’ Konzert zur Amtseinführung zeigte sogleich seinen Einsatz für stilistisch verschiedenartige Kompositionen aus Romantik, klassischer Moderne und Gegenwart. Bezeichnend der Auftakt des Abends mit der Uraufführung eines Werkes des Leipziger Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher (geb. 1960): »Relief für Orchester«. Ein spielfreudiges, virtuoses Konzert, bestimmt von einem vehementen Klanggestus. Unruhig flimmernde Ein-Ton-Passagen des Orchesters, vom Tonschöpfer als »Drive«-Perioden charakterisiert, bestimmen den rasanten Klangfluss, der immer wieder von kontrastierenden Episoden einzelner Instrumente oder Instrumentalgruppen unterbrochen wird, die aus dem Tutti des Orchesters hervortreten. Vielgestaltig im Ausdruck sind die Soli in diesen Intermezzi, die in dem formal rondoartigen Werk aus den gleichsam flachen Ein-Ton-Ebenen der Klanglandschaft hervortreten. Von den Musikern differenziert ausgeformt, erlebte das den bildkünstlerischen Prozess auf den musikalischen Ablauf übertragende Werk eine beeindruckende Wiedergabe.

Für Alban Bergs Violinkonzert von 1935, das eine zwölftönige Struktur mit tonalen Elementen verbindet, hatte Nelsons seine Landsmännin Baiba Skride zu Seite. Zusammen mit dem Orchester lotete die hervorragende Geigerin das Opus intensiv aus. Symbolisierte diese Komposition, eingedenk der Einbeziehung des Bach’schen Sterbechorals »Es ist genug...« im Finale, eine Reverenz vor dem Leipziger Thomaskantor, so war es für Nelsons Ehrensache, das Antrittskonzert mit einer Tonschöpfung Felix Mendelssohn Bartholdys, seines legendären Vorgängers am Gewandhauspult, zu krönen. Die »Schottische« Sinfonie, vom Meister 1842 persönlich in Leipzig uraufgeführt, erlebte eine hinreißende Nachgestaltung, einen imposanten Ausdrucksbogen spannend von der melancholisch gefärbten Einleitung über dramatische Ausbrüche sowie pastorale Stimmungsbilder bis hin zum hymnischen Finale.

Mit großer Erwartung sah man Nelsons zweitem Programm entgegen. Bernd Alois Zimmermanns bevorstehender 100. Geburtstag war Anlass, dessen Trompetenkonzert von 1954 einzubeziehen. Das stilistisch vielschichtige Opus wird von dem bekannten Spiritual »Nobody knows the trouble I’ve seen« als Cantus firmus durchzogen. Jazz-Elemente und Zwölftonreihe, Spiritual und Choralbearbeitung sind in dem Werk genial miteinander verflochten, in dem sich Zimmermann gegen den Rassismus wandte. Mit dem hervorragenden Trompeter Hakan Hardenberger war ein kompetenter Solist zur Stelle, der im Verein mit dem Orchester die Hürden der Partitur meisterte.

Als Auftakt des Abends eine Ehrerbietung vor dem in Leipzig geborenen Richard Wagner. Faszinierend, mit welchem musikalischen Sprachvermögen Nelsons und die Gewandhäusler Fragmente aus der »Götterdämmerung«, Siegfrieds Tod und Trauermarsch, zu intensivem klanglichen Leben erweckten. Unfassbare Trauer, schmerzliche Klage, aber auch visionäre Vorahnungen fanden hier beredten Ausdruck.

Erfreulich, dass Nelsons die von Kurt Masur am Gewandhaus begründete Schostakowitsch-Tradition fortzuschreiben gedenkt. Wovon die Aufführung der kriegsgeborenen 8. Sinfonie zeugte, mit der er das Programm beschloss. Von unfassbarem Leid und tiefem Schmerz erfüllt waren die im Kopfsatz gestalteten Klangbilder, die sich im marschartig aggressiven Scherzo zu einer scharfen Satire des Bösartigen und im toccatenartig stupiden dritten Satz gar zu einem Unmenschlichkeit anprangernden Klanggewitter wandelten. Welch ein Kontrast zu diesen Klangentfesselungen die von tiefsinniger Nachdenklichkeit bestimmte Passacaglia des Largos und das völlig verinnerlicht ersterbende Finale - von den Interpreten intensiv ausgeleuchtet. Ein vielversprechender Aufbruch in eine neue Ära!

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