Willkommen in Gefühlistan
Was ist Wirklichkeit? Ach, hören wir doch mit der Suche nach ihr auf! Die Wirklichkeit ist so unwirklich wie die Wirklichkeit selbst. Hat es jetzt 10 Grad Celsius Minus draußen oder gar 15 oder 20 Grad Celsius? Sicherlich, das Thermometer gibt uns Auskunft, doch empfindet jeder die Kälte anders, nicht wahr? Seit Jahren schon wird der Wetterbericht mit dem Hinweis zur »gefühlten Temperatur« beendet. Die ist dann meist niedriger als die vom Thermometer angezeigte.
Auch anderes, was uns bislang als Skalierbar galt, ist mittlerweile dem Unwägbaren unterworfen. Es gibt nicht mehr eine statistisch messbare Kriminalität, sondern nur noch die gefühlte Kriminalität. Da mögen die Kriminalisten noch so oft darauf hinweisen, dass es weniger Mord, Totschlag und Vergewaltigungen gibt, im öffentlichen Raum herrscht nur noch das Gefühl, und das ruft: Es wird alles immer schlimmer! Man fühlt sich offenbar von der Wirklichkeit getäuscht; sie erdreistet sich, sich nicht dem Vorurteil zu unterwerfen.
Die Herrschaft des Gefühls ist unbestritten. Mögen die Rationalisten doch ihre Fakten haben, in Gefühlistan gilt das alles nichts. »Die gefühlte Wirklichkeit der Bevölkerung bildet eine eigenständige Dimension der Realität«, hat dies der Soziologe Wolfgang Glatzer einmal formuliert. Und so gibt es auch soziale Ungleichheit nicht wirklich, sondern im Gefühl von vielen Politikern (vorzugsweise denen, die der FDP angehören), existiert nur eine gefühlte Ungleichheit.
Auch am anderen Ende der Sozialleiter argumentiert man mit Gefühl. In Essen zum Beispiel begründete der Betreiber der dortigen Armenspeisung seine Entscheidung, Bezugskarten künftig nur noch gegen Vorlage eines deutschen Passes auszugeben, damit, dass ältere Nutzerinnen und alleinerziehende Mütter sich von den vielen fremdsprachigen jungen Männern in der Warteschlange abgeschreckt gefühlt hätten.
Wo so viel Gefühl ist, muss der Verstand kapitulieren. jam Foto: iStock/Orla
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.