Aus dem fahrenden Zug geblickt
Am Maxim-Gorki-Theater präsentiert Sivan Ben Yishai ihr Stück »Papa liebt dich«
»Stören« war der Titel einer Inszenierung von Suna Güler, in der sieben weibliche Laien über die Rolle von Frauen in einer frauenfeindlichen Gesellschaft nachsannen und in der am Ende eine 14-Jährige ihre Geschlechtsgenossinnen aufforderte, die Angst gegenüber den Männern zu besiegen. Störenfriede sind auch die fünf Frauen im neuen Stück »Papa liebt dich«.
Sie wehren sich gegen männliche Gewalt und besinnen sich auf ihre Waffen. Zusammen besteigen sie einen Zug, der mit über 100 Stundenkilometern durch die Nacht rast. Aus dem Zugfenster heraus bieten sich bedenkenswerte Bilder. Die Akteure agieren als ein in fünf Personen aufgespaltetes weibliches Ich. Vor ihrem geistigen Auge erscheint eine langhaarige, Fahrrad fahrende Frau. Sie vervielfältigt sich zu einer die Ampel überfahrenden Kolonne.
Frauen, die sich abwechselnd als überdrehte Paare und als breakdancende Fans bewegen, treten in Erscheinung. Bilder von einer unter Wasser schwimmenden Frauengruppe mit entblößtem Rücken ziehen vorüber. Im jähen Bruch dazu klagt eine Familie über die erzwungene Flucht aus einem Bürgerkriegsland, und eine verstörte junge Frau wird von den schrecklichen Bildern und Gegenständen einer Ausstellung über den Bürgerkrieg im Wortsinne in den Wahnsinn getrieben. Erst ganz am Ende, die Fahrt hat längst den Mittelpunkt verlassen, erfahren wir von einer tragischen Familiengeschichte mit nachvollziehbaren Konflikten der Figuren.
Eine Frau, die sich auf eine Gallenoperation vorbereitet, wird von ihrer Tochter mit ihrer peinlichen Unterwürfigkeit gegenüber dem egomanischen Familienvater konfrontiert und an ihren Versuch erinnert, den Töchtern einzureden: »Papa liebt dich«. Sie fordert die Mutter auf, sich zu wehren, die Gewehre umzudrehen und sie gegen den Peiniger zu richten. Am Ende steht das Sehnsuchtsbild von einer selbstbewussten Frau, die sich ihrer Waffen bewusst wird. Da schließt sich der Kreis zur Inszenierung »Stören« und zum Appell an die Frauen, die Angst vor dem »Gebieter« zu überwinden.
Die Regisseurin hat versucht, die Gruppenerzählung in verschiedene Gestaltungsformen aufzulösen. Chorische und solistische Momente durchdringen sich. Zwei Frauen sagen gemeinsam der Mutter die Meinung, die anderen fallen ein in den Klagechor. Die Akteure ergänzen, steigern und widersprechen sich.
Unangenehm aber fällt ein Hang zum Bebildern auf. Wenn von den Haaren der Achselhöhle die Rede ist, die zungengleich herausragen, steckt eine Darstellerin die Zunge heraus. Wenn von den Brüsten im Sand gesprochen wird, wiegt eine andere den Busen ächzend im schleppenden Gang. Selten gewinnt eine der Erzählerinnen einen berührenden individuellen Eigenwert.
Der emotionale Höhepunkt ist erreicht, wenn Linda Vaher ob der schrecklichen Bilder der Bürgerkriegsausstellung im Tobsuchtsanfall die Wände hochgeht. Zu diesem Zeitpunkt aber ist das Interesse der meisten Zuschauer unter dem Dauerfeuer der beschriebenen und halluzinierten Bilder schon erloschen.
Nächste Vorstellungen: 6., 7. März
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