Im Fall Anis Amri häufen sich die Widersprüche
Untersuchungsausschuss befragte Zeugen aus Nordrhein-Westfalen und Berlin
Ein nach Einschätzung des nordrhein-westfälischen Landeskriminalsamtes gefährlicher Islamist steigt in den Fernbus und fährt nach Berlin. Die Düsseldorfer Beamten bitten darauf ihre Berliner Kollegen, den Gefährder weiter zu observieren, doch die Forderung bleibt ungehört: Die Berliner LKA-Beamten sitzen an jenem 18. Februar 2016 im Führungskräfteseminar und sind telefonisch nicht erreichbar. Der spätere Attentäter vom Breitscheidplatz kommt am Zentralen Omnibusbahnhof an. Der Berliner Beamte »L.« übernimmt die Sache und ordnet kurzfristig Amris Festnahme an. Das LKA in NRW ist brüskiert. Amri ruft seine Freunde und Unterstützer an und warnt sie vor der Polizei, die jetzt seine Handydaten hat - so geht es aus den Schilderungen des nordrhein-westfälischen Beamten hervor, der unter dem Decknamen »Zeuge M.« am Freitag vom Untersuchungsausschuss »Terror auf dem Breitscheidplatz« befragt wird.
»Das wirft kein gutes Licht auf die Beamten in Berlin. Der ermittlungsführende Beamte «L.» wurde vom Zeugen «M.» als unerfahren bezeichnet«, sagt Ausschussmitglied Benedikt Lux (Grüne) bei der späteren Pressekonferenz nach der Zeugenbefragung im Abgeordnetenhaus.
Der zuerst vom Ausschuss befragte Zeuge »M.« war Leiter der nordrhein-westfälischen Ermittlungskommission »EK Ventum«, die sich mit einem islamistischen Netzwerk befasste. Er berichtet er von gemeinsamen »GTAZ«-Besprechungen zur Terrorabwehr Mitte Februar 2016, an denen die Landeskriminalämter NRW und Berlin und auch das Bundeskriminalamt beteiligt waren. Die Person Anis Amri hätte bei diesen Besprechungen wiederholt auf der Tagesordnung gestanden. Die NRW-Beamten hätten damals betont, dass Amris Entwicklung, seine konspirativen Bewegungen, seine Ansprechpartner und seine Chats darauf hinwiesen, dass er einen Anschlag in Deutschland, und zwar vermutlich in Berlin plane, so der Beamte »M.«.
Doch während Amri in NRW schon knapp ein Jahr vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz als »äußerst gefährlich« eingestuft wurde, rangiert er in Berlin in der Mitte der Gefährder-Skala.
»Er war eher einer von vielen. Er war eigentlich nicht der große Gefährder, von dem man einen Anschlag erwartet«, sagt später der Berliner Zeuge »D.« vor dem Ausschuss. Der Vertreter des Berliner LKA kann sich nicht an unterschiedliche Meinungen erinnern: »Die Einschätzungen mit NRW waren alle einvernehmlich.« Seiner Aussage zufolge sei auch der Kontakt am 18. Februar, dem Tag von Amris Busreise, zwischen den Führungsbeamten aus NRW und Berlin trotz des Führungskräfteseminars möglich gewesen, »da beim Führungskräfteseminar immer alle telefonisch erreichbar sind«. Der vermeintlich unerfahrene Beamte »L.«, der Amri schließlich festnahm, soll »D.« zufolge auch nicht unerfahren gewesen sein.
Auf die Frage hin, warum seine Observation dennoch abgebrochen wurde, kann der Zeuge »D.« nicht direkt antworten. Vor dem Ausschuss verweist er wiederholt darauf, die dafür zuständigen Sachbearbeiter und Dezernatsleiter zu befragen. Die Dezernatsleitung war bei den »GTAZ«-Sitzungen nur teilweise anwesend, wie der Zeuge später aussagt. Wie auch die Staatsschutzchefin Jutta Porzucek, die bei der letzten Sitzung im Januar befragt wurde, erklärt sich der Zeuge »D.« Amris ungenaue Überwachung durch einen Mangel an personellen Kapazitäten: »Es gibt eine klare Priorisierung von potenziellen Gefährdern. Wir haben mehr Fälle als Kräfte«, so der Zeuge »D.«
»Dass die Kommunikation zwischen den Behörden nicht ohne Weiteres geklappt hat, kann nicht am Personalmangel gelegen haben. Die Berliner Polizei scheint sich an die Abstimmungen untereinander nicht gehalten zu haben«, sagt Ausschussmitglied Hakan Taş (LINKE) dem »nd«. Um die Widersprüche auszuräumen, plädiert Taş dafür, die Leitungsebene des Berliner LKA noch einmal zu befragen. »Wir haben deutlich andere Versionen gehört als von der Staatsschutzchefin Porzucek. Auf dieser Grundlage müssen wir sie noch einmal befragen«, so der Abgeordnete Taş. Zu den Ergebnissen der Befragung sagt er: »Trotz der Widersprüche sind wir nach der heutigen Sitzung deutlich klüger geworden.« Um den Fall des Anis Amri weiter aufzuklären, will er mit den anderen Ausschussmitgliedern im März einen Zeugen in der JVA Tegel befragen.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.