• Kultur
  • »Ich bin das Volk!«

Nicht nur Fragen brennen

Theater Heidelberg: ein starker Kroetz. Aber muss jetzt alles aktuelle Politik sein?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir Deutsche sind ein liebend Volk. Hass liegt uns nicht. So sehr, so muskulös wir mit Hass um uns werfen, die Kraft reicht nicht weit: Meist treffen wir nur uns selber. Im Selbsthass sind wir stark und einzig. Er ist eine bevorzugte linke Leidenschaft und hat geliebte rote Tücher: Volk, Heimat, Nation, das Wort Deutschland gehört naturgemäß auch dazu. Was die Sache so kompliziert macht: Leider ist Deutschland tatsächlich, wie jeder Ort der Welt, eine Idiotensammelstelle, und was von da ausschwärmt, hinterlässt verbrannte Werte. Und versetzt Menschen nicht selten in Ängste!

Am Theater Heidelberg inszenierte Holger Schultze einen rasantes, böses, witziges Teilgesellschaftsporträt: »Ich bin das Volk!« von Franz Xaver Kroetz. Der einst sehr erfolgreiche Dramatiker schrieb seine »Volkstümlichen Szenen aus dem neuen Deutschland« 1994, nach dem tödlichen Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Solingen. Das Volkstümliche daran: die literarische Tradition jener Brechungen, die am Volke das dämonisch Tümelnde offenlegen. »Aber ich hasse nicht Deutschland«, schrieb der Autor vor Jahren, »ich hasse Brandstifter, die sich dessen bemächtigen.«

Vierzehn Szenen werden in Heidelberg geboten, gleichsam eine Übermalung von Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches«. Es entstand ein grimmiger, mitunter auch plakativer Schlagabtausch unter Seelenversehrten, die ihren Schmerz über alles scheinbar Undeutsche blind, also aggressiv weiterzugeben versuchen. Ein zehnköpfiges, unbedingt auch zehnherzig zu nennendes Ensemble - im wendigen, lustvoll sarkastischen Rollenwechsel - bringt soziologische, ideologische Muster zum Tanzen. Das Kleinbürgerliche am Rande des Proletarischen, gemischt mit Akademikertum, imprägniert von Katholizismus, das ist Kroetz’ bajuwarisch grundierte Galerie - Schultz stellt sie mit Energie und straffer Kraft auf die Bühne von Martin Fischer.

Eine Bühne wie ein Maschinenraum; was sich hier bewegt, ist Mechanik, ist Schräubchen, ist politische Motorik, die sich als Motor aufdreht und missversteht. Hier agieren Getriebene, die sich als Getriebe wähnen. Ein Gewirr aus Eisenträgern und Stahlgeländern; eine Rutsche und eine rotierende Walze. Die Monologe und Dialoge scheinen mitten ins Denken hineinzuführen und führen doch geradewegs aus ihm hinaus. Plötzlich Finsternis, Feuer, nicht nur Fragen brennen, die Antworten auch - hinten züngeln Flammen, als kröche eine Giftschlange über den Boden. Wie durchs Unterholz, denn Kroetz ist Gestrüpp-Kabarettist, er kommt aus dem Latschenkiefern-Geflecht, von dort, wo Schwüle aufsteigt, wo man das Kriechen beherrschen muss, wo die niederen Instinkte Hochkonjunktur haben. Wo der weiche Teppich liegt, unter den sich das Leben selber kehrt.

Es wäre beruhigend, kämen diese Prototypen, deren Wesen geradewegs zu AfD und Pegida führt, als Monster daher. Aber sie bleiben Menschen, bisweilen sogar sympathisch - man könnte vergleichend sagen: Immer die Kinderschänder sind es, die die schönsten Spielzeuge verteilen. Jene Witwe auf dem Friedhof, die rassische Reinheit noch unter deutscher Erde fordert; jener Altnazi, der den Fleiß der Türken lobt - alles, was da gesagt wird, schmeckt nach Gesetz und Gemütlichkeit; irgendwo dazwischen hat eine Ahnung Platz, warum Hitler ein toller Typ war.

All diese Soldaten, Erwerbslosen, Biederbürger, Beamten und auch der Pfarrer, der aus der Kirche im ehemaligen KZ Dachau Flüchtlinge wegschleppen lässt - es sind Denunzianten und Feiglinge jener mitunter sogar äußerst freundlichen Art, die just beim Anschwärzen ihre weißen Westen preisen.

Der Politiker, der seine Phrasen zur Rede knetet; der Dichter, der Verse gegen Stoiber schreibt und Angst vor der Wirkung hat - nicht, dass diese hechelnden, ständig unter Druck herumjagenden oder krummsteif dozierenden Leutchen keine Demokraten seien. Jeder ist hier Demokrat, also ein Mensch, der - im wahren Sinn des Wortes - überwältigende Mehrheit werden will. Schweigende Mehrheit, die aber den Ton angibt.

Drastik und Deutlichkeit. Bravourös. Aber just das Gelingende bedarf der Unterwanderung durch Gegenfragen. Heidelberg zeigt mit Kroetz klare Kante, stellt sich überzeugend quer zu einer gemütsgarstigen Rechtstendenz im Land. Das tun derzeit viele Bühnen, viele Künste, und schon geht wieder ein Begriff um, als sei er das einzig gültige Gütesiegel: politisches Theater. Liegt nur darin die ureigene Antwort der Kunst auf den Wirbel der Zeit, den chaotischen Auswurf der Verhältnisse? Alle und alles befeuert vom Aktualitätstrieb? Und im Publikum sitzen die politisch geschulten Wertungsrichter und haken befriedigt den landläufigen, medienbelegten Themenkatalog ab: Fremdenhass, Flüchtlingswelle, Kapitalismusgier, Rechtsruck, NSU, Sexismus?

Leise Frage also: Lohnt gar nichts mehr außerhalb der sozialpädagogischen Geste? Müsste es nicht auch wieder jenes Faszinosum des Ästhetischen geben, das dem alltäglichen Leben selbst weder zugemutet noch ihm abgerungen werden kann? Also: Welche Rolle darf in einer Welt, in der verstärkt couragierter Einsatz gefordert ist, noch die souveräne Selbstvergessenheit spielen? Um unmissverständlich zu bleiben: Jede Trump-Parodie zählt, und noch einen nächsten Migranten auf die Bühne und noch einen furchtlosen Antifaschisten!, und noch eine peitschende Breitseite gegen neue Altfaschisten!

Aber, aber ... in die benickte Langeweile des Korrekten und Erwartbaren, in der dann alle zustimmend einschlafen und bei der sich das Kirchensoll erfüllt, nämlich: dass die Frommen immer frommer werden - da hinein darf sich doch erkundigt werden: Besteht das Verstörende an der Kunst nicht nach wie vor auch darin, dass sie zwar alles sein kann, was man ihr zuschreibt - sie aber in nichts unmittelbar Politischem aufgehen muss?

Nicht missfällig als eine Flucht darf jenes Eintauchen in andere Welten betrachtet werden, das kein Abtauchen ist, aber doch ein seelenkundlicher Akt gegen jenen ästhetischen Populismus, der in ehrenwertem Fleiß nur immer die mahnenden, aufklärerischen Leitartikel zu Themen des Tages ins Performative übersetzt. So wie das Christentum zwar die sozialste Art der Nächstenliebe predigt, aber die Bergpredigt nicht gleichzusetzen ist mit kommunistischen Manifesten - und der Gottesdienst, in aller Hinwendung zu den Nöten der Zeit, doch realitätsfernstes Ritual bleiben möge.

Dem Theater Heidelberg - daran ist nichts zu deuteln - gelang ein sehenswert schneidender Zweistünder über den Vormarsch gefährlichster Dikta-Toren. Kroetz wie Brecht. Wo Brecht auf der Bühne antifaschistisch war, war er notgedrungen eindeutig. Kroetz ist es auch. Eindeutigkeit weiß, dass sie keine Einladung ist, sondern Waffe. Wer eine Waffe zückt, der kennt nur eine einzige Richtung. Zack, Schuss, Treffer! Heidelberg: Theater der Treffer.

Getroffen wird der Mitläufer. Es wird schon laufen, sagt der - bevor ihn das Rad der Geschichte überrollt. Das ist nicht mein Bier, sagt er, und schluckt seine Meinung. Wenn er aufgefordert wird, eine Katastrophe zu verhindern, fragt er: Warum gerade ich? Wenn sie ihn trifft, fragt er: Warum gerade mich? Deutschland ist in diesem Sinne gefährdet wie jede Ordnung. Aber durch Freiheit und Demokratie auch wehrfähig wie nie in seiner Geschichte. Und so kühn wie nie: Denn Freiheit und Demokratie sind, im Vergleich zu anderen Regimen, nichts weiter als betreute Freiwilligkeit. Ich bin das Volk? Wir sind das Volk? Wer - sind das Volk?

Nächste Vorstellung: 1. Februar

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