Das andere Ich ist ein Ventil

»Der Tag, als ich nicht ich mehr war«: Das Deutsche Theater zeigt eine Uraufführung von Roland Schimmelpfennig

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

»Hilfe, ich bin doppelt«, ruft in Kleists »Käthchen von Heilbronn« der Graf Wetter vom Strahl, als sich ihm der wundersame Traum in der Silvesternacht nicht erschließen will. Spätestens nach diesem 1810 entstandenen »großen historischen Ritterspiel« ist das Thema des Identitätsverlusts und der Persönlichkeitsspaltung ein wiederkehrender Grundkonflikt der deutschen Dramatik.

»Hilfe, ich bin doppelt« ruft auch in Roland Schimmelpfennigs »Der Tag, als ich nicht ich mehr war« ein Mann in mittleren Jahren, als er von der Arbeit heimkehrt und am gedeckten Tisch sich selbst als Familienvater vorfindet. Dabei hatte der Tag noch normal angefangen. Frühstück, Fahrt mit dem Vorortbus zur Arbeit. Der Doppelgänger am gedeckten Tisch weist auf eine Zerstörung der Grundfesten der Kleinbürgerfamilie hin. »Wer bist du, was ist das?«, schreien die beiden Männer durcheinander. Dann aber gibt es Beispiele von Übereinstimmung. Beim Ausfüllen eines Wettscheins setzen beide auf Intuition anstelle von Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Unter Führung des neuen Ichs berichten sie von ihrer Fahrt ins Büro, vom Aufstieg mit dem Fahrstuhl und von der Verlockung durch den offenen Knopf in der Bluse der Sekretärin. Die Verdoppelung hat inzwischen Schule gemacht. Ein weibliches neues Ich ist hinzugekommen. Spätestens beim Gang ins Bett fallen Unterschiede zwischen den Paaren auf. Der angestammte Ehemann legt sich stumm auf die Seite und träumt vom Knopf in der Bluse der Büroangestellten, das neue Ich dagegen geht nackt ins Bett und hat hemmungslosen Sex mit dem neuen weiblichen Ich. Es ist, als ob die beiden Neuen das ausleben, was die beiden ursprünglichen Ichs krampfhaft unter Verschluss gehalten haben. Der Autor redet von der Funktion des anderen Ichs als Ventil.

Plötzlich treten gravierende Unterschiede auf. Erlebnishungrig geht das andere männliche Ich in die Bar, zögernd gefolgt vom angestammten Ehemann. Das hinzugekommene neue weibliche Ich tritt in der Bar mit roter Perücke als Stimmungssängerin auf, und die brave Ehefrau, die mit Regenmantel eingetreten ist, erkennt sich in der Sängerin als sie selbst wieder. Gegen Ende hin verlassen alle Vier den Schauplatz, zum Frühstück am nächsten Morgen erscheinen die beiden neuen Ichs wieder. Ob sie bleiben werden, ist offen.

Die Nähe zu anderen Stücken von Roland Schimmelpfennig ist unübersehbar. Wieder gibt es keine konkrete Zuschreibung von Rollen, wieder sind die Figuren in eine Zeitenwende geworfen (im Stück kenntlich gemacht durch den veränderten Lauf von Sonne und Mond), wieder gibt es aberwitzige Verwandlungen. Im preisgekrönten »Goldenen Drachen« verwandelt sich ein Asiate in eine in Teppichen eingewickelte Leiche, die dem Fluss übergeben wird. Im neuen Stück sieht sich der Ehemann als Knopf in der Bluse der Schreibkraft. Und doch bleibt dieses Auftragswerk des Deutschen Theaters hinter anderen Stücken Schimmelpfennigs zurück und ist nur eine geschickte dramaturgische Fingerübung. Das Motiv der Verdoppelung spielt sich schnell leer, die beiden Kinder der Familie haben außer dem Erzählen von Familiengeschichte keinen schlüssigen Bezug zur Haupthandlung.

Weil sie offensichtlich der gestischen Kraft des Textes nicht voll vertraute, hat die Regisseurin Anne Lenk mit szenischen Hinzuerfindungen nicht gespart. Schon zu Beginn spuken rätselhafte Märchenfiguren über die Bühne: Einem Ungetüm mit grauem Zottelpelz folgt ein Braunbär, der einen Mann in mittleren Jahren umherzerrt. Der Liedgesang des anderen weiblichen Ichs wird umrahmt von seltsamen Gestalten mit überlangen Dracula-Zähnen. Das neue Paar lässt seine sexuelle Erfüllung in groteske Tanzbewegungen münden. Zum Schluss schleifen die vier Hauptfiguren eine Fichte mit übermäßig dickem Stamm über die Bühne. Deren Abholzung war ein nie verwirklichter Wunschtraum der Familie, den erst die Neuen in die Tat umgesetzt haben.

Neben dem überbordenden Wirbel hinzuerfundener szenischer Ereignisse gibt es kaum emotional berührende Momente. Dann etwa, wenn die Ehefrau (Franziska Machens) die Welt beim Anblick der verdoppelten Männer nicht mehr versteht oder wenn Camill Jammal als der vom anderen Ich überrannte Ehemann die tragische Gewissheit begreift, dass die Kellner ihn nicht mehr wahrnehmen. Eine Situation von Nachdenklichkeit und Stille auch das von Franziska Machens gesungene Lied über das Verschwinden des Ehemanns in seiner ursprünglichen Wesensart. Trotzdem: Dem meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatiker ist kein Stück gelungen, das die deutschen Theaterspielpläne bereichern wird.

Nächste Vorstellungen: 19., 28. Januar

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