Vom Chefsessel in die letzte Reihe
Nach sieben Regierungsjahren in NRW wurde Ex-Ministerpräsidentin Kraft für die Öffentlichkeit fast unsichtbar
Von der Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, des einwohnerstärksten Bundeslandes, zur Hinterbänklerin im Düsseldorfer Landtag: Hannelore Kraft (SPD) hat in den vergangenen Monaten einen radikalen Wandel durchlebt - teils erzwungen, teils freiwillig. Nicht erwünscht war im Mai natürlich die Niederlage bei der NRW-Landtagswahl, als Kraft mit nur 31,2 Prozent das schlechteste Ergebnis der NRW-SPD in der Landesgeschichte holte.
Die Konsequenz daraus entschied die 56-Jährige ohne Zeitverzug: Nur wenige Minuten nach Bekanntwerden der Wahlschlappe kündigte die damalige SPD-Landes- und stellvertretende Bundesvorsitzende den Rückzug aus allen Parteiämtern an. Nur einen Tag später räumte sie ihre Büros in Berlin.
Jetzt sitzt die einst mächtigste Frau Nordrhein-Westfalens in der letzten Reihe des Landtags, arbeitet nur noch im Sportausschuss des Parlaments, hält keine Reden mehr und besucht auch keine Parteitage. Das ist der freiwillige Teil in ihrem neuen Leben.
Für die breite Öffentlichkeit ist die ehemalige »Landesmutter« nach sieben Regierungsjahren fast über Nacht unsichtbar geworden: Auch aus den sozialen Netzwerken ist sie verschwunden, seit sie keinen Regierungsapparat mehr zur Verfügung hat.
Nicht jeder versteht das. »Sie hat sich Knall auf Fall zurückgezogen. Darauf war ihr Landesverband nicht vorbereitet«, sagt der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall der dpa. Nun seien in der tiefen Krise der Partei mit Norbert Römer (70) und Michael Groschek (61) zwei Männer an der Spitze von Landespartei und Fraktion, die sich selbst nur als Übergangslösung verstünden.
»Die SPD hat keinen Neuanfang gewagt, sondern das Paddel erst einmal eingezogen - eine suboptimale Lösung«, kritisiert der Politologe. »Wäre Kraft zunächst Parteivorsitzende geblieben, hätte sie selbst den Übergang mitgestalten können. Und ihre Partei hätte Zeit gehabt, sich zu sortieren. Ihr Wort hätte Gewicht gehabt.«
Hannelore Kraft sieht das anders. Sie will ihrer Partei beim Neuanfang nicht reinreden. Weder zu den Wahlen des Spitzenpersonals der NRW-SPD noch zu Sachfragen - wie eine Neuauflage einer großen Koalition - äußert sie sich offiziell. Auch Interviews hat sie nach der Wahlniederlage im Mai nicht wieder gegeben, in keiner Talkshow erzählt, wie ihr Leben heute aussieht.
Von Parlamentsbesuchern lässt die direkt gewählte Mülheimer Abgeordnete Kraft sich aber ansprechen. Und hier und da gibt es auf den Fluren auch einen kleinen Plausch mit Journalisten - streng vertraulich. Nicht mal den Namen ihres neuen Hundes, mit dem sie nun oft und gerne ihre Runden zieht, will sie verraten.
Verbittert wirkt Kraft nicht. Meist sieht man sie entspannt im Landtag sitzen. Selten reizt eine Provokation aus Reihen der schwarz-gelben Koalitionsfraktionen sie zu Zwischenrufen. Kraft genießt ihr zurückgewonnenes Leben: Zeit für Ehemann Udo, ihren erwachsenen Sohn Jan, ihren Garten, Sport, Zeit zum Alleinsein. Und: kein Dress-Code mehr. Vieles aus ihrem alten Leben hat die vom Naturell her ohnehin schnörkellose Diplom-Ökonomin entrümpelt.
Wer Kraft gut kennt, hält ihre Rückkehr auf die große politische Bühne - etwa als Bundesministerin einer großen Koalition - für ausgeschlossen. Ihre Abneigung gegen den Berliner Politikbetrieb ist bekannt, ihre Absage 2013, »nie, nie als Kanzlerkandidatin antreten« zu wollen, legendär.
Die Ex-Ministerpräsidentin will ihre voraussichtlich letzte Amtsperiode im Landtag anständig zu Ende bringen, ohne Wortführerin oder graue Eminenz zu sein. So hatte es auch Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) 2010 nach seiner Wahlniederlage gehalten.
Wichtig ist ihr die Arbeit als Vizevorsitzende der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und ihr neues Aufsichtsratsmandat im RAG-Kohlekonzern. Mit einem Enthüllungsbuch nach über 17 Jahren im Landtag ist nicht zu rechnen. Kraft hat aus ihrer Sicht nichts abzurechnen.
Erst beim nächsten ordentlichen Landesparteitag der NRW-SPD im Herbst ist Kraft bereit, sich wenigstens offiziell für ihre Arbeit an der Spitze danken zu lassen - beim Parteitag im vergangenen Juni war sie nicht erschienen. Eine Rede plant die einstige »Herzdame der Sozialdemokratie« aber nicht. dpa/nd
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