Letzte Chance für eine sozialere EU

In Göteborg wurde die »Europäische Säule sozialer Rechte« proklamiert

  • Nelli Tügel, Göteborg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Ein Meilenstein für Europa«, so jedenfalls sieht es der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Am Freitag wurde im schwedischen Göteborg die »Europäische Säule sozialer Rechte« (ESSR) proklamiert. In einer Zeremonie signierten Juncker, EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani sowie Jüri Ratas für die estnische Ratspräsidentschaft die 20 Punkte umfassende Erklärung. Anschließend erklärte Juncker, die Union sei »im Herzen stets ein soziales Projekt gewesen«.

Weil dies immer weniger Menschen glauben, hatte der Kommissionschef gemeinsam mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven zu einem Sozialgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs geladen - dem ersten seit 20 Jahren. Am Rande spielten auch die Katalonienkrise und der Brexit eine Rolle. So kamen Ratspräsident Donald Tusk und Großbritanniens Premierministerin Theresa May wegen der stockenden Brexit-Verhandlungen zu einem bilateralen Treffen zusammen.

Um den Gipfel ausrichten zu können, musste die zweitgrößte Stadt Schwedens ihr öffentliches Leben nahezu komplett einstellen. Das gewaltige Polizeiaufgebot sollte eine Wiederholung der »Göteborg-Krawalle« von 2001 verhindern. Vor 16 Jahren hatte zuletzt ein EU-Gipfel in der Stadt getagt - damals kam es zu Massendemonstrationen mit Ausschreitungen und massiver Polizeigewalt.

Proteste gab es diesmal nicht. Das Hauptanliegen der Gipfelstürmer von 2001 aber - ein soziales Europa - war allgegenwärtig, so scheint es jedenfalls. Doch was die »soziale Säule« bedeuten wird, geht aus der ESSR nicht hervor und wird unterschiedlich interpretiert. Während sich Gewerkschafter eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten erhoffen, sagte Emma Marcegaglia vom europäischen Arbeitgeberverband Business Europe in der Eröffnungsrunde, die Wettbewerbsfähigkeit werde gestärkt, um mit der »Konkurrenz aus China, Russland und Indien« mithalten zu können.

Ähnlich widersprüchlich äußerten sich die 25 angereisten Staats- und Regierungschefs, die in - für sanften Spott sorgenden - kleinen Stuhlkreisen diskutierten. Der französische Präsident Emmanuel Macron nutzte den Gipfel, um erneut energisch EU-Reformen zu fordern. Die »soziale Säule« bedeute, dass massive öffentliche Investitionen in »lebenslanges Lernen« nötig seien, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, so Macron. Diese führte er in erster Linie auf für die Bedürfnisse der Wirtschaft »unzureichende Qualifizierung« vieler Arbeitnehmer zurück.

Während sich einige Redner Macrons Forderung einer Konvergenz, also der Vereinheitlichung der Standards auf EU-Ebene, bei der Arbeits- und Sozialpolitik anschlossen, glaubte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dass jeder Mitgliedsstaat an seinem eigenen Modell festhalten werde. Das unter ihm entwickelte »ungarische Modell« pries er als äußerst erfolgreich an. Man habe in den letzten 12 Jahren durch »Flexibilisierung« und »ohne dabei auf Migration zu setzen«, den Arbeitsmarkt reformiert und die Arbeitslosigkeit von 12,5 auf vier Prozent gesenkt. Widerspruch kam von Portugals Regierungschef António Costa, der für Einwanderung plädierte und zudem das »europäische Sozialmodell« gegen einen »Wettlauf nach unten« in Stellung brachte.

235 Millionen Menschen sind EU-weit erwerbstätig, das entspricht einer Beschäftigungsquote von 71 Prozent. Die Unterschiede zwischen den Staaten sind allerdings - wie auch bei Löhnen und sozialer Sicherung - groß. Ob sich daran nun etwas ändert, ist fraglich. Denn rechtsverbindlich ist die ESSR nicht - die Umsetzung liegt bei den nationalen Regierungen.

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