So banal, also bitter
»Eine Frau« am BE
Das Theater erschuf einst feurige Charaktere, die mit Dolch in der Magengrube und Limonade im Bauch unsterbliches bürgerliches Leben anmeldeten. Über Ibsen und Strindberg, Tschechow und Schnitzler, O’Neill und Williams, Miller und Albee zerrieb, erschöpfte sich das Bürgertum. Das Leben siegt, indem es siecht; wir kriechen, was wir wollen. Auch die Dramatik des US-Amerikaners Tracy Letts sieht schwarz - und zeigt Schwatz. Die Banalität suppt. Die Formlosigkeit ufert aus. Das Ersaufen im Naturalismus ist wieder eine Art geworden, Theater auf den Grund zu setzen. Den Existenzgrund, ja, das auch, aber ebenso auf den Grund, wo man festsitzt. Auch wenn die Bühne sich dreht.
Ein junges Mädchen steht am Seitenportal, blickt auf diese sich drehende Bühne und sieht ihre künftigen Lebensalter an sich vorüberziehen. Eine gealterte Frau steht später auch am Seitenportal, blickt ebenfalls auf die sich drehende Bühne und sieht ihre früheren Lebensalter an sich vorüberziehen. Zwei Szenen erzählen ein Prinzip: eine Biografie, wechselnd als Vorlauf und Rückgriff. Die Vergangenheit eines Menschen mit dem Wissen um seine Zukunft betrachten; das Morgige mit Augen sehen, denen das Gestern zeitversetzt nachgereicht wird.
»Eine Frau - Mary Page Marlowe« heißt das Stück von Letts, gewissermaßen die Zugabe zu des Pulitzer-Preisträgers größerem Schauspiel »Eine Familie«, das ebenfalls am Berliner Ensemble läuft. Drei Schauspielerinnen (Carina Zichner, Bettina Hoppe, Corinna Kirchhoff) und ein junges Mädchen (Wilhelmina Mischorr) absolvieren zehn Lebensalter. Zichner in freiheitsträumender, trotziger Selbstbehauptung. Hoppe in spröder, tapferer, tragisch harter Selbstrettung. Kirchhoff schließlich in reifekichernder, dann wächserner, aber würdelächelnder Selbstauflösung.
Die unchronologisch erzählte Geschichte einer Unglücklichen. Eltern-Suff, Teenie-Träume, eigener Suff, Therapie, Affären. Drei Ehen, eine Tochter, der Sohn ein sterbender Junkie. Der eigene Erdenabschied schließlich als wehmutsschwere, aber auch belastungsfreie letzte Frage aller Fragen: Wo lag der Sinn - und wann begann die Qual, überhaupt nach einem Sinn zu suchen? David Bösch inszenierte seinen berührenden Respekt vor dem Ensemble, ein Bilderbogen vom Blatt, zwischen Zimmer-Segmenten einer ziemlich abgeschabten US-Provinz (Bühne: Patrick Bannwart).
Kein großer Abend. Eher nur - zwischen Kinderwagen und Klinikbett - das Protokoll einer millionenfach übertragbaren Schrecknis: Weil Menschen glücklich sein wollen, fällt es ihnen schwer, gleichzeitig gut zu sein. Alles und alle - die Männer: Sascha Nathan, Martin Rentzsch bullig, entnervt, generös, egoistisch - letztlich so müde, so monströs, so malträtiert. So bockig, so betoniert. So bedauernswert. Banal ist eben bitter. Aber Mehrheit. Auf allen Bühnen des Lebens.
Nächste Vorstellungen: 16., 17., 24. November
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