Jägerschnitzel

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin ist nicht nur Charlottenburg, Kreuzberg oder Neukölln. Nein, es ist auch Marzahn, Köpenick und Pankow. Dass dies auch fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch eine Frage der kulinarischen Distinktion ist, muss jeder Wessi früher oder später mehr oder weniger schmerzhaft feststellen. Mischgemüse mit Kartoffelbrei und Schmorzwiebeln zum Beispiel ist noch ganz passabel, die Schwarzwurzel kann gerne zum Arbeiterspargel erhöht werden, aber Ketchup mit Mehlschwitze und ein bisschen abgelaufenem Oregano als original italienische Tomatensauce zu verkaufen, ist eine kulinarische Menschenrechtsverletzung.

Meist kann man sich solchen Torturen der Geschmacksnerven ja entziehen, indem man Orte meidet, wo so etwas angeboten wird. Schwer wird es jedoch, wenn man in Gegenden Berlins kommt, wo es keine Alternative gibt. Ganz schwer ist es sogar, wenn man in solchen Gegenden arbeitet. Manch eine Kantine wurde da schon in Erinnerung an die britische Iron Lady Margaret Thatcher TINA-Kantine getauft. Denn bekanntlich verkaufte Thatcher den Briten in den 1980er Jahren mit ihrem TINA-Argument (There is no alternative) den Neoliberalismus als wirtschaftliche Notwendigkeit.

Ganz schlimm wird es, wenn man der TINA-Kantine aufgrund ihrer Qualität noch einen Apostroph mit s anhängt. TINA‘s, das hört sich ganz nach einer Provinz-Bahnhofskaschemme an, in der das Öl wochenlang in der Fritteuse reift. Solche Lokalitäten sollte jeder Mensch, der zumindest noch ein paar verkümmerte Geschmacksnerven besitzt, meiden wie der Teufel das Weihwasser. Schließlich halten sich diese Etablissements nur am Leben, weil die einzige Alternative vor Ort ein Asia-Sushi-Döner ist, wo der Spieß mindestens so alt ist wie das Frittierfett 50 Meter weiter, weil sich beide Läden eh nur als örtliche Alkohol-Dealer über Wasser halten.

Besonders hoch ist die Fallhöhe zwischen westdeutschen Erwartungen und ostdeutschen Realitäten, wenn in solchen TINA-Mensen ein Essen angeboten wird, das in Ost wie West gleich beliebt ist: das Jägerschnitzel. Dem Wessi läuft schon beim Gedanken an ein schönes Stück unpaniertes Kalbsfleisch mit Pilzsauce das Wasser im Mund zusammen. Entsprechend muss er erst mal enttäuscht schlucken, wenn ihm ein Jägerschnitzel Ost vorgesetzt wird: ein paniertes Stück Jagdwurst mit Spirelli-Butternudeln und eben jener schweren Verbrauchertäuschung aus Ketchup, Mehlschwitze und ein bisschen abgelaufenem Oregano.

Nur gut, dass manch ein Kantinenwirt mittlerweile die Zeichen der Zeit erkannt hat. Er hat kapiert, dass fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Existenz zweier deutscher Jägerschnitzel ein Anachronismus ist. Er serviert einem deswegen das gesamtdeutsche Jägerschnitzel in Form von panierter Jagdwurst mit Spirelli-Butternudeln und einer braunen Sauce mit Dosenchampignons. Und egal ob Ossi oder Wessi - wem selbst dann nicht alle Geschmacksknospen abgestorben sind, der wird spätestens danach zum militanten Vegetarier.

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