Bezaubernder Chronist
Kerrs Berlin-Briefe
Er war noch keine zwanzig, ein belesener, hochintelligenter Student, als es ihn im Sommer 1887 von Breslau nach Berlin zog. Die Stadt verschlug ihm den Atem. Er sah, wie sie in rasantem Tempo Metropole wurde, er genoss ihre Lebendigkeit, die Theater, die Kunst, die Zeitungen, die noblen Flaniermeilen, die Geschäfte und dass immerzu Neues dazukam. Zum Schluss erwarb er noch mit einer hochgelobten Dissertation über Brentano den Doktorhut, aber die Universität lockte ihn nicht. Er wollte Journalist werden. Im Sommer 1893 schrieb er die ersten Kritiken. Man las sie aufmerksam und bewundernd auch dort, wo er herkam, und weil Berlin inzwischen weithin strahlte, fragte man ihn, ob er nicht regelmäßig schildern könne, was in der Stadt passiert. Alfred Kerr zögerte nicht und sagte zu.
Unterm Datum des 1. Januar 1895 druckte die liberale »Breslauer Zeitung« den ersten Bericht. Er begann mit einem Satz, der gleich den Ton vorgab: »Der Berliner Westen - diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben - hat in dieser Woche zwei Jubelgreise gefeiert.« Die Leser konnten sich freuen. Da sprach einer, der Charme hatte und Witz, der geistreich, spritzig und unterhaltsam formulierte und Sonntag für Sonntag auffiel, weil er alle, die im Blatt publizierten, überragte. Kerr schrieb mit Emphase. Er zog durch den Berliner Westen, sah Reichtum und Elend, die Aufstrebenden, die Bankrotteure und Ausgesonderten, hörte in Gerichtssälen zu, ging in die Philharmonie, die Theater und Museen, und wo immer sich die feine Gesellschaft vergnügte, war er voller Entzücken mit von der Partie.
Die Briefe erschienen zwischen Januar 1895 und November 1900 immer unten auf der ersten Seite. Sie gerieten später (wie auch Kerrs Berlin-Berichte für ein Königsberger Blatt, die dort bis 1922 publiziert wurden) in Vergessenheit. Immerhin: Ein paar Ausgaben der »Breslauer Zeitung« sind mit dem Nachlass ins Archiv der Berliner Akademie der Künste gelangt, wo sie Günther Rühle bei der Recherche für die Werkausgabe des S. Fischer Verlages eines Tages in die Hände fielen. Rühle, elektrisiert, fuhr nach Breslau und fand im Zeitungsarchiv der Universität tatsächlich sämtliche Ausgaben mit Kerrs Briefen. Von den 191 Beiträgen publizierte er 1997 134 unter dem Titel »Wo liegt Berlin?« im Aufbau-Verlag. Der Band wurde damals (mit Hilfe des begeisterten Marcel Reich-Ranicki, der das Buch im »Literarischen Quartett« enthusiastisch feierte) ein Bestseller. 1999 kam ein weiterer Band dazu: »Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?«
Jetzt, nach zwanzig Jahren, sind die »Berliner Briefe« wieder da, nicht alle, aber eine stattliche Auswahl, die schönsten von lauter schönen Stücken, herrliche Momentaufnahmen einer Metropole mit ihren Licht- und Schattenseiten, Liebeserklärungen eines bezaubernden Chronisten.
Alfred Kerr: Was ist der Mensch in Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs. Hg. von Deborah Vietor-Engländer, Nachwort Günther Rühle. Aufbau Verlag, 375 S., geb., 26 €.
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