Heulfreie Zone

Australian Football ist hart, aber ehrlich. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 5 Min.

Will ein verhinderter Torjäger, der seinen geliebten Fußball regelmäßig haarscharf über die Latte semmelt oder knapp neben die Pfosten knallt, endlich mal wieder Freude haben am Leben, sollte er einfach den nächsten Langstreckenflieger besteigen und auf die andere Seite des Globus jetten. Weil er sich nach der Landung an einem Ort wiederfindet, wo das, was ihn bisher zur Lachnummer gemacht hat, überraschend Punkte bringt und in voll besetzten Stadien bejubelt wird - nämlich zwischen Darwin und Sydney beim Australian Football.

Denn besagte Sportart, die auf dem Fünften Kontinent weitaus populärer ist als internationaler Fußball (der dort in gutem alten Old-English unter dem Synonym «Soccer» firmiert), bietet pro Spielfeldhälfte gleich drei Möglichkeiten, das Football-Ei fachgerecht zu platzieren. Zwei mindestens sechs Meter hohe Stangen markieren sozusagen das Haupttor, das primäre «Goal». Flankiert wird es dazu noch von zwei links und rechts von ihm stehende Seitentore, den «Behinds». Nicht nur Netze, sondern vor allem auch die Querlatten fehlen. Das hat den erfreulichen Zweck, die Trefferquote zu erhöhen. Bälle, die zwar in die betreffenden Zielzonen einschwenken, aber zugleich Flugbahnen folgen, die sie gegebenenfalls in den Luftraum über die oberen Enden der Begrenzungspfosten hinaus führen, werden nämlich ebenfalls gewertet.

Das Sehnsuchtsland Oz, eine Traumdestination für frustrierte Bundesligaknipser? Da könnte schon irgendwie was dran sein, lacht Adrian Drechsler. Der 34-jährige Verkaufsprofi bei einem Start-up-Unternehmen managt in seiner Freizeit die Hamburg Dockers. Das ist einer von acht Vereinen, die mittlerweile in Deutschland richtig Spielbetrieb haben und für die Kickerei werben, die drüben die Kumpels von Indiana Jones so begeistert. Allerdings, schränkt der Wahl-Aussi Adrian unseren ersten Eindruck gleich ein wenig ein: «›Goal‹ und ›Behind‹ werden in der Schlussbilanz unterschiedlich gewichtet», nämlich mit sechs Zählern für ein «Goal» und mit nur einem Zähler für jeden «Behind».

Immerhin. Torlose Unentschieden, über die sich die Fans im FIFA-Fußball so oft ärgern, sind im Footy, wie Australian Football in der Kurzform heißt, praktisch fast ausgeschlossen. Jedenfalls kennt Drechsler keinen derartigen Fall, und gerade auch das schätzt er an diesem Spiel, das er während eines Travel-und Work-Aufenthalts vor fünf Jahren in Melbourne kennengelernt hat. Er war damals «total geflasht», wie er sich im nd-Gespräch erinnert, und folgerichtig wollte er Footy auch nach seiner Rückkehr in die Heimat pflegen. Zumal ihm die besondere Dynamik während eines Matches gefallen habe. «Ständig passiert da etwas. Langeweile, gar gähnende, wie mitunter bei unterklassigem Fußball, gibt es nicht.»

Das rührt aus dem Regelwerk. Australian Football lässt, anders als Rasensport unter FIFA-Ägide, den Aktiven viel mehr Freiheiten. Die elliptisch geformten Bälle dürfen nicht bloß mit dem Fuß getreten (englisch: «Kick»), sondern obendrein gefangen und anschließend per Faustschlag (simples Werfen ist nicht erlaubt) weitergegeben werden (Fachjargon: «Hand Pass»). Was aber den Gegenentwurf aus Down Under zu einer echten Battle macht: Um einem Angreifer den Ball abzujagen, ist es erlaubt, den Mann oder die Frau festzuhalten («tackle») oder zu stoßen («bump»).

«Im Grunde darfst du fast alles, außer treten und schlagen», fasst Adrian Drechsler knapp zusammen. Im Vergleich zu Standardfußball sei Footy schlicht ehrlicher, meint der gebürtige Bremer: «Ständig auf den Boden rumrollen und jammernd nach dem Schiedsrichter schielen, das gibt es hier nicht. Derb wird es durchaus, aber keiner heult rum», versichert er.

Freilich musste auch er sich an den robusten Körperkontakt erst mal gewöhnen: «Wir sind ja hierzulande mit dem üblichen Fußball sozialisiert, deshalb brauchte er anfangs »eine gewisse Überwindung«, auf dem Feld einen anderen »wirklich umzurumsen«. Inzwischen laufe das aber »problemlos«. Und gewöhnt habe er sich längst an die blauen Flecken, die er mit nach Hause bringe.

Sensibelchen, die das verstören mag, beruhigt er sofort: »Bei Footy verletzen sich weniger Leute als im Normalo-Fußball.« Klingt unlogisch, basiert aber auf Erfahrungswerten: »Bist du auf robuste Attacken mental vorbereitet, weichst du instinktiv aus und reduzierst einen eventuellen Impact.«

Als Pionier des Australian Football gilt Thomas Will, der am 31. Juli 1858 im Richmond Park von Melbourne mit Gleichgesinnten die erste Runde gebolzt haben soll. Inspiriert war er natürlich von Rugby und dem englischen Universitätsfußball jener Epoche. Manche Sporthistoriker spekulieren, ob der Erfinder auch Anleihen bei »Marn Grook« gemacht habe, einem ähnlichen Ballspiel der Aborigines. Doch diese These bleibt weiterhin sehr umstritten.

Fest steht indes, dass Australian Football heute unverzichtbar zur Sportkultur seines Geburtslandes gehört. Die Kinder lernen es, sobald sie laufen können. Kein Wunder, dass Expatriates auf ihr vertrautes Spiel auch fern der Heimat nicht verzichten wollen: Geschätzt 30 Prozent der Aktiven, die Footy in Deutschland spielen, sind Australier. Das sorgt für eine unnachahmlich lässige Stimmung beim Training und im Klub, findet Adrian Drechsler, er liebe das einfach: laid back Australian style.

Nach Überschreiten der 30er Altersgrenze sehe er sich leider schon jenseits seiner »Goldenen Jahre«, sagt er. Doch wenigstens einmal möchte er noch zur Amateur-WM fliegen, zum »International Cup«, den Au᠆stralien 2020 wieder ausrichtet.

Aktuell wird er auf den Positionen »Ruck« oder »Full Forward« aufgestellt. In der einen soll er nach dem Anstoß das eigene Team in Ballbesitz und nach vorne bringen, in der anderen gibt er eine Art Mittelstürmer. Und obwohl nun ja schon U40, feilt er immer noch an seiner bevorzugten Technik, dem »Speckie«: Wartet ein gegnerischer Spieler auf den Ball, der ihm zugepasst wird, springt man beim »Speckie« auf dessen Schulter und schnappt ihm das Ding von oben weg. »Das ist einer der geilsten Momente«, schwärmt Adrian Drechsler.

Weitere Infos zu Australian Football in Germany: www.aflg.de

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