Polen: Nachwuchsärzte im Hungerstreik

Assistenzler können von ihrem Gehalt kaum leben und arbeiten oft in mehreren Krankenhäusern gleichzeitig

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir studieren jahrelang und ehrerbietig Medizin, um diesen großartigen Beruf zu ergreifen. Doch wenn wir den Praxiseinstieg wagen, werden wir jäh aus unseren Träumen gerissen. Die Realität in den Krankenhäusern trifft uns mit voller Wucht«, sagt der 29-jährige Tomasz, ein angehender Gynäkologe aus Warschau. »Die größten Leidtragenden sind die älteren Patienten. Sie lassen dann ihren Frust an uns aus, dabei verurteilen wir das marode Gesundheitssystem in Polen genauso wie sie«, beteuert Malgorzata, eine 28-jährige Assistenzärztin. Tomasz und Malgorzata gehören zu den einigen Dutzend Fachärzten in Ausbildung, die seit Anfang Oktober mit einem Hungerstreik gegen diese Bedingungen protestieren.

Inzwischen können die jungen Mediziner auf tatkräftige Unterstützung von oppositionellen Politikern und prominenten Kulturschaffenden zählen. »Zuletzt kam eine Patientin mit Grauem Star zu mir und fragte nach einer künstlichen Linse. In anderen Ländern wird so etwas sofort gemacht. Ich musste sie auf das Jahr 2021 verweisen, erst dann wäre wieder ein solcher Behandlungstermin frei gewesen«, erzählt Tomasz.

Die prekäre Situation des polnischen Gesundheitssystems verdeutlicht eine Studie der OECD, an der 44 Länder teilgenommen haben. In Polen werden demnach 4,5 Prozent des BIP für die Krankenpflege ausgegeben, circa 20 Milliarden Euro. Damit liegt das Land auf einem unrühmlichen 36. Platz, in der EU gar im letzten Drittel. Die an der Protestaktion teilnehmenden Mediziner fordern daher eine Erhöhung der Ausgaben um mindestens 2,3 Prozent. Den jungen Fachärzten geht es jedoch auch um die eigenen Gehälter. »Ich möchte gern irgendwann einfach nur an einem Ort arbeiten und nicht noch in zwei weiteren Krankenhäusern«, ärgert sich Malgorzata. Die Onkologin muss regelmäßig Doppel- und Dreifachschichten schieben, um über die Runden zu kommen. Chronischer Schlafmangel ließ sie zuletzt fast selbst zu einer Patientin werden. Der medizinische Nachwuchs in Polen verdient in den ersten Jahren nach dem Studium um die 500 Euro, wobei schon die Miete in einer Stadt wie Warschau mindestens 300 Euro beträgt.

Junge Fachärzte arbeiten deshalb oft in mehreren Krankenhäusern gleichzeitig. Dabei kommt es zu einer unzumutbaren Anhäufung von Schichten mit mehreren Hundert Stunden Arbeit pro Monat. »Wegen diesen Bedingungen kehren viele Hochschulabsolventen ihrer Heimat den Rücken. Diejenigen, die bleiben, müssen entweder Schmiergeld annehmen oder bis zur völligen Erschöpfung malochen. So geht das nicht weiter«, ärgert sich Malgorzata. Die polnische Ärztekammer schätzt, dass circa 30 000 Personen aus dem Medizin- und Pflegebereich bereits ausgewandert sind. Die klaffende Lücke lässt sich nur schwer schließen, dafür werden die Warteschlangen vor den Arztpraxen immer länger. Dabei ist Malgorzata bei weitem nicht die einzige, deren Gesundheit wegen Überarbeitung zu Schaden gekommen ist. Auslöser des Hungerstreiks waren mehrere Todesfälle von jungen Ärzten. Erst im September verstarb völlig unerwartet die 39-jährige Justyna Kusmierczyk, die ebenfalls auf unzählige schlaflose Schichten angewiesen war.

Am vergangenen Mittwoch versprach Regierungschefin Beata Szydlo, dass 2018 der Etat für Ärztegehälter um 40 Prozent angehoben werden soll. Auch der Mindestlohn für die Nachwuchsärzte soll in den nächsten vier Jahren auf rund 1200 Euro steigen. Doch diese Zugeständnisse gehen den jungen Medizinern nicht weit genug. Das Gesundheitssystem erfordere »unverzügliche Veränderungen«, sonst werde der Hungerstreik »bis auf weiteres fortgesetzt«, so Tomasz.

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