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Rechtsmediziner bekommt Recht
Das Land Brandenburg muss Jürgen B. trotz Stasi-Vergangenheit als Oberarzt beschäftigen
»Der Volksmund sagt: ›Irgendwann wächst Gras über eine Sache.‹« Das sagt am Montagnachmittag der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung. Für Dr. Jürgen B. ist das Gras über seine Stasi-Vergangenheit gewachsen. Das Land Brandenburg muss ihn wieder beschäftigen, wenngleich nicht als Direktor des Landesinstituts für Rechtsmedizin und nicht einmal als dessen Stellvertreter, aber doch als Oberarzt. So entschied das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - und es verdonnerte das Bundesland, die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Angelegenheit ist damit im Prinzip erledigt. Denn Revision ließ das Gericht nicht zu. Ob Jürgen B. jedoch wirklich wieder im Institut anfängt, das bleibt offen. Dazu müssten noch Gespräche stattfinden, sagt er.
Der heute 59-Jährige war früher an der NVA-Akademie für Rechtsmedizin in Bad Saarow tätig und hatte sich in dieser Zeit vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit anwerben lassen. Als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) verfasste er im Verlaufe von elf Monaten ein paar Berichte über Kollegen und ihre Familien. Die Wende beendete die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst.
In seinem Beruf hat Jürgen B. weiter gearbeitet - beim brandenburgischen Landesinstitut für Rechtsmedizin. Dort stieg er 2011 sogar zum Vizedirektor auf. Als der Direktor in den Ruhestand trat, wollte Jürgen B. 2016 in die Chefposition nachrücken und setzte sich in einer internen Ausschreibung tatsächlich durch. Doch nach der Aufregung um Stasi-Fälle in der Linksfraktion nach der Bildung der rot-roten Koalition im Jahre 2009 wurde genauer hingeschaut. Es gab für Jürgen B. eine erneute Stasi-Überprüfung. 1991 hatte er schon einmal seine IM-Tätigkeit verheimlicht. Im Oktober 2016 informierte er wieder nicht richtig. Dem Sozialministerium lagen da aber die Stasi-Unterlagen vor. Es kündigte Jürgen B. wegen der Lügen fristlos und vorsorglich gleich noch fristgemäß. Die fristlose Kündigung war wegen Formfehlern bei der Beteiligung des Personalrats unwirksam. Am Montag wird auch noch die fristgemäße Kündigung gekippt.
Die Stasi-Verstrickung sei zwar keineswegs gering gewesen, so das Gericht. Doch habe Jürgen B. beispielsweise über eine Affäre berichtet, die sowieso Gesprächsstoff war, und weder konspirativ Erkenntnisse erlangt, noch den Betroffenen erkennbar geschadet. Zu seinen Gunsten spricht, dass er all die Jahre beanstandungslos seinen Dienst versah, was für eine innere Abkehr vom altem Denken spreche. So wie Jürgen B. hatte 2016 auch das Sozialressort nicht mit offenen Karten gespielt, weil es ihm die Akten nicht gleich vorhielt, sondern quasi hinterhältig nach seiner Vergangenheit fragte. Kurz darauf gab er alles zu, ohne in die Akten einzusehen. Er räumte nicht nur ein, was nicht mehr zubestreiten war. Das wird ihm positiv angerechnet. »Die Interessenabwägung geht knapp zugunsten des Klägers aus«, resümiert der Richter. »Die Betonung liegt auf knapp.« Jürgen B. nimmt das Urteil in Saal 340 sichtlich erleichtert auf. Die Gegenseite gratuliert fair mit Handschlag und einem Schulterklopfen.
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