Wenn Schönheit obsiegt - beim Leiden

»Großes Berliner Theater« - erneute DVD-Box in Zusammenarbeit mit »nd«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Goethe ist das Kaufhaus für alle. Sogar Lobesmaterial fürs Fernsehen liegt in den Regalen. »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht. Diese Steigerung des geistigen Vermögens gehört einer hochgebildeten Zeit an.« Das ist ein Wehmutssatz für das, was - war: Theateraufführungen zur Hauptsendezeit. Die DDR schien bei all ihren Nöten von der einen Not verschont zu sein: so etwas wie die Reservate 3sat oder arte erfinden zu müssen, um das Erfahrungswissen der Kunst sprechen zu lassen. Nun schon zum vierten Mal gibt es, zur Erinnerung, »Großes Berliner Theater«, eine DVD-Box mit drei Discs: Aufführungen aus dem TV-Archiv, herausgegeben vom Studio Hamburg Enterprises GmbH, in Kooperation auch mit »nd«.

»Drei Schwestern« kommt aus dem Deutschen Theater Berlin, Sendetermin 1960. Anton Tschechow schuf mit seinem Stück ein Gleichnis auf diese zeitübergreifende Erfahrung: das Provinznest. Was wir suchen, macht unsere Größe aus; was wir finden, unsere Mittelmäßigkeit. Überall und immer. Immer ist dem Einzelnen das Draußen zu groß, aber das Drinnen zu eng. Lauf einer mal Marathon im Käfig. Heinz Hilpert hat das mit souveräner Getragenheit inszeniert - großes psychologisches Theater einer in ihrem Wesen nicht vergangenen Zeit.

Dann »Der Menschenhasser« von Molière, Volksbühne, Sendetermin: 1979. Menschenhasser zu werden, ist die Folge von Wahrheitsliebe: Man kann nur die Wahrheit lieben oder die Menschen. Menschenfreundlichkeit wäre also Einverständnis mit Heuchelei, mit schmeichelverpackter Egomanie. Der Adlige Alceste hält das nicht mehr aus, er spricht Klartext. Fritz Marquardt hat die bissige Farce 1975 inszeniert, aber gar nicht vordergründig bissig, eher als einen traurig-resignativen, betont künstlichen, geradezu statuarischen Vers-Report. Ein artifizieller Bilderbogen über die Angst vor Einsamkeit; Angst, die genau das produziert, was sie verhindern will: Einsamkeit. Der Dichter Kurt Bartsch schrieb eine Übersetzung, die zu überdreht betonten Endreimen führt. Alceste (Dieter Montag) windet, ätzt sich zum Wuthochdruck hinauf, Dichter Oronte (Winfried Glatzeder) pflegt seinen Bitterton. Die Raffinesse der Aufführung besteht im Gleichgewicht zwischen Charakteren und Karikaturen. Zu sehen sind Henry Hübchen, Hermann Beyer und Michael Gwisdek in früher Annäherung an eine große kommende Karriere.

1986 sendete das DDR-Fernsehen »Egmont« von Johann Wolfgang von Goethe, Deutsches Theater Berlin. Schiller hatte Goethes Stück seinerzeit kritisiert: »keine hervorstechenden Begebenheiten, kein dramatischer Plan«, stattdessen bloße »Aneinanderstellung einzelner Handlungen, zusammengehalten von einem Charakter«. Ja, aber was für ein Charakter! Und gespielt von Ulrich Mühe! Porträt eines flammend und flehend Unpolitischen, dem die historische Pflicht zur Bewahrung der nach Goethe »festgefügten Zustände« gegen die spanische Despotie auf die Schultern gelegt wird - und der dieser Pflicht nicht gewachsen ist. Das Versagen eines Hoffnungsträgers. Regisseur Frieder Solter als Elementarier eines literaturbezogenen Theaters, den an Stoffen die dialogische Bindungsstärke (und Bildungsstärke!) interessiert. Im Barock von Arrangement und Spielgestus entsteht starke Wirkung. Als habe Solter keine Furcht vor dem, was Schiller am meisten kritisierte: dass das Stück am Schluss »salto mortale in die Oper umschlägt«.

Als Hommage an »starke Frauen - große Schauspielerinnen« versteht sich die neue Sammlung. Die Schwestern in Heinz Hilperts Inszenierung: Ursula Burg, Margarethe Taudte, Inge Keller. Sie sitzt als Mascha einfach nur da, während ringsum das Plaudern perlt. Sie sitzt und liest, anwesend abwesend. Mehr ist da nicht - doch bereits in diesen ersten Momenten der Inszenierung »Drei Schwestern« wird Kunst der großen Keller, die in diesem Jahr verstarb, schön offenbar: nichts hinzutun, nicht zu füllig hantieren, sich nicht an Umhüllungen verschwenden, nur immer wegnehmen vom Überflüssigen. Bis Wesenszüge in jenes Licht gerissen sind, zu dem aber unbedingt die Schatten gehören.

In Solters »Egmont« spielt Christine Schorn Klärchens Mutter. Wenn diese Schauspielerin schmollmundig wird oder sich in ein spezielles Verdutztsein wirft, dann weiß man nie, ob diese Frau jetzt Waffe zeigt oder sich gerade entwaffnet. Mit der Zeit hat die Künstlerin in ihrem Spiel zu wunderbarer Skurrilität gefunden, zu einer schutzgepanzerten Weltfremdheit mitunter, die so erlitten wie erfunden ist, so tragisch umflort wie kokett umglitzert.

Angelica Domröse (Céliméne) spielt im »Menschenhasser« mit den Männern, deren Fantasien sich an ihr entzünden. Ihre Célimene agiert zwischen den Fronten - als perlende Virtuosin der Lust. Es ist die Lust am Tanz auf der Grenzlinie, die das Luftleichte vom Abgründigen trennt. Es wird Schönheit obsiegen beim Leiden.

Und schließlich Ulrike Krumbiegel. Es scheint ihr Spaß zu machen, aus Inszenierungen in gewisser Weise herauszufallen, eckig zu sein, eine gewisse Bockigkeit gegen das allzu Gediegene von Theater auf die Szene zu schicken. Das macht diese Künstlerin - auch als Klärchen im »Egmont« - so trotzig oder traurig widerspenstig. Als wolle sie spielen: Wir Schwachen müssen souverän von unserer Schwäche leben wie die Starken blind von ihrer Stärke. Die Krumbiegel spielt Verhärtung berührend weichgezeichnet und überzieht das Sanfte mit Rüstungen.

Hilperts »Drei Schwestern« ist noch unter einem anderen Aspekt sehenswert: Die Aufführung bringt ein Wiedersehen mit einem der prägenden Theaterkünstler Deutschlands: Wolfgang Langhoff - in der Rolle des Offiziers Werschinin. Glanz und kluge Männlichkeit. Langhoff war Intendant. Er war Regisseur. Er war Schauspieler. Er war es, der ab 1946 siebzehn Jahre lang das Deutsche Theater Berlin zu einer Gardestätte des Schauspiels formte. Er war es, der dem ästhetischen Antipoden Brecht nach 1945 die erste künstlerische Heimat für dessen »Berliner Ensemble« bot. Das war Solidarität, aber auch Selbstüberwindung, also Größe. Seine Bühne, seine Regie, sein Spiel: betörend helle Aufklärung. Sein Werschinin fasziniert durch gediegene Zurückhaltung, schnarrende Kraft, präzis konturierte Schärfe.

Von der Aufführung »Der Menschenhasser« gab es an der Volksbühne ein Plakat, auf dem die Hauptgestalt Alceste weint. Der damalige Intendant Benno Besson fand es scheußlich, Regisseur Marquardt mochte es - dies Plakat, so meinte er, erkläre sehr treffend ihn selber: »Dieses schöne Gesicht, dann ein Spiegel, der zersplittert, und in diesem zersplitterten Spiegel rollten ihm die Tränen.« Selbstporträt eines Januskopfes zwischen Komik und Tragik. Übergreifend: Ab-Bild des Theaters, das auch mit dieser Veröffentlichung Antwort gibt auf Grundfragen an die Kunst: Wo ist der Glanz? Wo die Feier? Wo das Herzklopfen bei erhebenden Begegnungen?

Großes Berliner Theater: Starke Frauen - große Schauspielerinnen. 3 DVDs. Digital restauriert. Studio Hamburg Enterprises, 29,99 €.

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