Charaktere, geerdet

Lissy Tempelhof ist tot

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Diese Schauspielerin verband auf sehr eigene Weise Verwandlungslust und Erkennbarkeit, sie verknüpfte die Figuration mit dem Sinn fürs Direkte. Wenn Lissy Tempelhof die Bühne betrat, bahnte sich ein entscheidender Strahl Wärme den Weg aus der gestalteten in die wirkliche Welt, also: ins Publikum. Nie entglitt ihr eine Figur ins absolut Ferne; noch im Höllischsten menschlicher Seelen blitzte eine unbesiegliche Freundlichkeit auf. Das Gesicht durchstrahlte jede Maskierung, blieb ein Realitätssignal. Vielleicht ist das eine Erklärung ihrer so überaus erfolgreichen Film- und Fernseharbeit (»Der Richter von Zalamea«, »Wo du hingehst«, »Professor Mamlock«, »Der geteilte Himmel«, »Die besten Jahre«, »Broddi«, »Leichensache Zernik«): Die Kamera holte sich bei ihr, was stets mehr Leben bot als dessen überdeutliche Formung.

Über 35 Jahre war sie Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Sie spielte mit Bravour jenen geerdeten Charakter, »der das ihm Fremde nicht ohne zwingende Gründe annimmt«, wie es die Kritikerin Erika Stephan so treffend beobachtete. Tempelhof fand ihr Feld zwischen der Lebenswahrheit und der Kunstwahrheit, zwischen der Kunst, natürlich zu bleiben, und der so ganz anderen Natur der Kunst.

Die von der Schauspielschule Gefeuerte, die als Souffleuse in Senftenberg einen neuen Kontakt zum Theater gesucht hatte, blieb eine Selbstunzufriedene. Der Zweifel an der eigenen Kraft überschattete manche Arbeit, machte unzugänglich, unfroh, unproduktiv. Altern geschah dann fern der Öffentlichkeit und also fern eines Theaters, das Lebensabschnitt und Rollenarbeit doch sehr gut hätte verbinden können. Das Rezensenten-Deutsch hat für diesen Vorgang sein Versatzstück: In ihren späten Jahren ist es still um diese Schauspielerin geworden.

Die Tempelhof am DT: eine Landbestellung zwischen - etwas grob auf den Punkt gebracht - Inge Keller und Elsa Grube-Deister. Sie war eine wundervoll praktische Mrs. Bryant in Weskers »Tag für Tag« (Regie: Horst Schönemann), eine Mutter und Stehauffrau, ein dicklich-dreister und plebejisch gewiefter Engel der Enge; sie war Gräfin Terzky in Schillers »Wallenstein« (Regie: Friedo Solter), eine elegant Hochfahrende des politischen Ehrgeizes; sie hatte vor vielen Jahren die Jokaste in Bessons »Ödipus« gespielt, sie arbeitete bei Adolf Dresen und Wolfgang Heinz.

Bevor das Arbeiterkind aus Berlin-Prenzlauer Berg 1963 ans DT kam, hatte sie in Anklam gespielt, am Berliner Theater der Freundschaft, am Staatstheater Dresden, an der Volksbühne, am Maxim-Gorki-Theater. War Wischnewskis Kommissarin in der »Optimistischen Tragödie«, Brechts Grusche und Johanna Dark, wuchs mit jungen Frauen der Gegenwartsdramatik ins künstlerische Selbstbewusstsein, überraschte mit skurriler Distanzierung und grell verschrobenem Witz.

In der Nacht zum Dienstag ist Lissy Tempelhof im Alter von 88 Jahren gestorben.

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