Stadtderby mit Nostalgiefaktor
BSG Chemie gegen Lokomotive: Mittlerweile eint die beiden verfeindeten Leipziger Vereine mehr, als sie trennt
Für Heiko Scholz ist es das »Derby der Derbys in Ostdeutschland«. Chemie vs. Lokomotive - für viele Leipziger Fußballfans ist das erste Ligaduell der beiden Erzfeinde seit mehr als 20 Jahren wohl der Höhepunkt des Jahres. »Es ist schön, dass es beide Vereine gibt, dass beide wieder am Profibereich schnuppern«, sagte der frühere Bundesligaspieler Scholz. Einst kickte er auch für Chemie. Jetzt coacht der 51-Jährige die »Loksche«.
Wie er, hofft auch sein Trainerkollege Dietmar Demuth am Sonnabend auf ein friedliches Regionalligaduell. »Wir werden richtig Gas geben und alles dafür tun, dass wir gewinnen«, sagte er. Nicht nur Demuth weiß, dass das Leipziger Stadtderby eine besondere Vorgeschichte hat.
Was Alfred Kunze wohl davon halten würde? Seit gut zehn Jahren ist der ehemalige Trainer von Chemie Leipzig tot. Seine BSG empfängt den 1. FC Lokomotive im Alfred-Kunze-Sportpark, dem ebenso atmosphärischen wie baufälligen Stadion im Stadtteil Leutzsch.
In der Geschichte trennt die beiden Vereine viel, ihre Gegenwart aber ähnelt sich. Dabei ist die Historie äußerst verworren. 1956 sahen 100 000 Zuschauer im Zentralstadion die Partie zwischen dem SC Lokomotive Leipzig und SC Rotation Leipzig. Von beiden Teams werden die besten Spieler 1966 in den Leipziger Stadtteil Probstheida delegiert und beim neu gegründeten 1. FC Lokomotive Leipzig zusammengezogen. Ähnlich, wie es die DDR-Führung auch beim BFC Dynamo tat. Der »nicht förderungswürdige Rest« der Leipziger Fußballer landete in Leutzsch bei der BSG.
Trainiert wurde die Mannschaft von jenem Alfred Kunze und gewann in der ersten Saison der DDR-Oberliga sensationell die Meisterschaft. Der Kampf der Kulturen war perfekt. Auf der einen Seite die BSG, die sich in ihrem Underdog-Image bis heute sehr gut gefällt. Auf der anderen Seite der Stadt die »Loksche«, immerhin viermaliger FDGB-Pokalsieger sowie 1987 Finalist im Europapokal der Pokalsieger.
In den Wirren der Wendezeit ging viel kaputt. Unter den Namen VfB Leipzig (Lok) und Sachsen Leipzig (Chemie) kamen Vereinsführungen mit Geld und Ambitionen, aber wenig Sachverstand. Geld wurde verbrannt, die Vereine ihrer Identität beraubt. Die Fans gingen auf die Barrikaden, gründeten die Vereine unter ihren alten Namen einfach neu. Neustart in der 3. Kreisklasse.
Zu diesem Zeitpunkt manifestierten sich auch politische Unterschiede. Lok wurde von Neonazis unterwandert. Polizeiautos brannten, im Block bildeten Lok-Fans ein menschliches Hakenkreuz, Heil-Hitler-Rufe waren an der Tagesordnung. Bei Chemie etablierte sich ein linkes Milieu mit guten Verbindungen zur Leipziger Antifa. Zwar ist es in beiden Fanlagern bedeutend ruhiger geworden, die Spannungen aber blieben.
Im vergangenen November trafen beide Vereine im Viertelfinale des Sachsenpokals aufeinander. Rund 5000 Zuschauer wurden damals von geschätzten 1000 Polizisten bewacht. Genaue Zahlen gibt es nicht, die Dimension dürfte aber auch an diesem Sonnabend bei dem Risikospiel ähnlich sein. Damals blieb es friedlich, da die Fanlager extrem voneinander abgeschirmt wurden. Am Ende gewann Lok in der Verlängerung.
Durch den Aufstieg von Chemie in die Regionalliga Nordost eint die beiden Leipziger Vereine mittlerweile mehr als sie trennt. Beide sind knapp bei Kasse, haben ein baufälliges Stadion, das nur dank der Arbeitseinsätze von Fans zusammengehalten wird. Und auf beiden Seiten der Stadt sind mittlerweile Vereinsführungen am Werk, die mit genügend Realismus und Sachverstand die Klubs Schritt für Schritt entwickeln. Beide peilen als Fernziel die 3. Liga an. Sie wissen, mit Bundesligist RB Leipzig werden sie nie konkurrieren können. Beide wollen ein kultureller und vereinsdemokratischer Gegenpol sein. Das kann aber nur gelingen, wenn es friedlich bleibt. dpa/nd
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