Diese Blöße, diese Scheu
Blatt für Ulrich Mühe
Heiner Müller sagte über Ulrich Mühe: »Ein x-beliebiger Schauspieler zeigt auf den Mond und sagt: Das ist der Mond! Mühe kann die Entfernung zum Mond spielen.« Dieser Darstellungskünstler verkörperte eine Lust auf die Enden der Welt. Die Enden sind dort, wo etwas nicht weiterführt - weil die physische Energie und die seelische Spannkraft an ein Ende kamen. Das Verlangen, mit allen Sinnen und Fasern da zu sein, trifft plötzlich auf die Magie der Selbstauflösung. Und das hält den Menschen gespannt federnd.
Diesen Schauspieler interessierte am Denken, ob es Nerven hat oder Muskeln. Spiel wie das dünne Brett über dem Abgrund, das den Übergang aushält, nicht aber ein Verweilen. Mühe war ein Asket bis zur sinnlich totalen Verausgabung. Für das schöne Leiden der Präzision. Durchscheinend, eisenhart; federweich, schilfzäh. Wenn er Verse und Gedanken sprach, dann war es, als habe die Welt vor ihnen nicht existiert. Das Wesen eines Satzes, sagt der Philosoph Wittgenstein, sei das Wesen der Welt. Solche Gottähnlichkeit kann sich keine Wissenschaft leisten, nicht einmal die Theologie. Schauspiel schon. Bei Mühe jedenfalls war es so.
Sein Name bleibt verbunden mit einer der fesselndsten Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin: »Gespenster«, Regie Thomas Langhoff. Für den jungen Schauspieler aus Karl-Marx-Stadt war der Osvald in Ibsens Stück der sofortige Schritt in die Theatergeschichte. Aufstieg eines Baufacharbeiters aus Grimma, Jahrgang 1953, auch im Film: Hölderlin und Goebbels und Thomas Manns »Kleiner Herr Friedemann«. Wenn er spielte, mit großen Augen und einem Körper, der sich gern ins abenteuerlich Ungerade bog und zog, dann fuhren gleichsam Wirbel aus Abgründigkeit unter die Vernunft und lösten sie aus ihren Verschalungen. Offenbarung durch Blöße, aber noch die tollste Blöße verlor bei ihm nie den Glanz der Scheu.
Er ging dem Theater verloren, als die DDR verloren ging. Weil die Leute gingen. Auch Mühe ging, nach Wien, er hatte Mut zur Freiheit, er wollte keine Sicherheit mehr, und er mochte keine Willkür mehr, auch nicht jene Willkür, die ihn zum Privilegierten bis hin nach Salzburg erhoben hatte. Und aus dem großartigen Schauspielkünstler der Bühne (Egmont und Philotas, Lohndrücker und Hamlet, Clavigo und Peer Gynt) wurde ein gefragter, starker Filmcharakter, bei Helmut Dietl, Michael Haneke, Costa-Gavras. Vorher hatte er schon die Hauptrolle in Bernhard Wickis Joseph-Roth-Verfilmung »Das Spinnennetz« gespielt: von beklemmender Wahrhaftigkeit sein Porträt eines biegsamen politischen Hänflings - in einem Aufstieg, so jämmerlich, so schlotternd. Doch hinterm hässlich Bleichen immer sichtbar: der ganze Leidensschatz eines - Menschen.
An diesem Sonnabend ist es zehn Jahre her, dass Ulrich Mühe gestorben ist.
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