»Oxford-Russisch« und »Puschkin-Englisch«

Wie ich einer russischen Kollegin mannhaft Hilfe leistete und selbst ganz schön ins Schwimmen kam. Von Hartmut Kegler

  • Hartmut Kegler
  • Lesedauer: 3 Min.

Es geschah vor etwa dreißig Jahren. Ich durfte an einem wissenschaftlichen Kongress in Frankreich teilnehmen. Für Vorträge und Diskussion waren zwei Sprachen zugelassen: Englisch und Französisch. Zu der Veranstaltung waren Fachkollegen aus aller Welt angereist. So konnte ich auch meine Kollegin Tatjana Verderewskaja aus Kischinjow begrüßen, mit der ich schon jahrzehntelang zusammengearbeitet hatte und freundschaftlich verbunden war.

Etwa eine halbe Stunde bevor Tatjana zu ihrem Vortrag aufgefordert werden sollte, schob sie mir ihr Manuskript zu und bat mich, es zu verlesen. Das ließ mich zunächst tief durchatmen. Faust hatte ja Gretchen gefragt: »Schönes Fräulein, darf ich wagen ...«, und ich fügte an: »wirklich Ihre Worte vorzutragen?!« Ich rang mit mir. Denn mein Blick auf ihr Manuskript ließ mich selbst auch als englisch-sprachlich Ungeübten so manche »Holpersteine« erkennen.

Dann wurde ihr Vortrag aufgerufen. Mit weichen Knien schritt ich zum Rednerpult und begann mit leicht bebender Stimme Tatjanas Text zu verlesen. Nach dem letzten Satz vernahm ich den freundlichen Applaus und bat im Stillen Karl Marx im Himmel, er möge mir die Diskussion ersparen. Doch der große Philosoph schenkte mir kein Gehör. Die Ergebnisse meiner lieben Tatjana waren für das Auditorium doch so interessant, dass nach dem üblichen »thank you for your paper« des Chairman viele Hände hochflogen und ums Wort baten.

So begann mein Leidensweg im Geist der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Ein Kollege aus Wisconsin machte den Anfang mit einer Frage und einem Kommentar, von dem ich nur das »most interesting« verstand. Ich entschuldigte mich und bat um eine Wiederholung der Frage, die aber im gleichen Stil des rollenden Amerikanisch vorgetragen wurde. Immerhin bekam ich zwei, drei Stichworte mit und versuchte mit ihnen die Frage für Tatjana im Russischen zu wiederholen. Mein »Oxford-Russisch« war nicht viel besser als mein »Puschkin-Englisch«, aber Tatjana verstand doch, worum es ging und antwortete in einem rasenden Tempo. Mit dem Schweiß des Gerechten auf der Stirn bat ich sie inständigst: »Medleno, poschaluista!«, doch sie wiederholte die Frage im selben Tempo. Wieder verstand ich nur wenig, konnte mir aber die Antwort aus ihrem Text zusammenreimen, die ich dann im Stil eines Sextaners dem Amerikaner übermittelte. So verlief das Frage-Antwort-Martyrium noch lange, bange zwanzig Minuten, bis ich endlich erlöst wurde.

Völlig überraschend waren dann die Kommentare in der nachfolgenden Pause. Meine stümperhafte Dolmetscherei wurde von den westdeutschen Kollegen mit der Bemerkung kommentiert: »Sie sprechen ja ausgezeichnet Russisch!«, während meine sowjetischen Kollegen mein »vorzügliches Englisch« priesen. Und das, obwohl ich in beiden Sprachen nicht viel besser als »Fünf« gewesen war.

»Gewagt, gewonnen«? Nein. »Der Schein trügt!«

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