Zu wahr für die Wirklichkeit

»4 Blocks« erzählt die Geschichte eines Mafia-Clans in Berlin-Neukölln

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Wem die Realität zu krass oder wahlweise zu lahm wird, der kriegt im Fernsehen ein Angebot reichhaltiger denn je, ihr auf unterhaltsame Art zu entkommen. Da gibt es Zombies und Nonnen, Räuber und Gendarmen, Tyrannen und Befreier, da gibt es zwischen Himmel und Hölle ein fast lückenloses Spektrum des Allzumenschlichen, das uns hilft, der Wirklichkeit da draußen ein paar Episoden lang zu entfliehen. Was es auf dem Bildschirm jedoch eher selten zu sehen gibt, ist die Wirklichkeit, wie sie wirklich sein könnte.

Berlin zum Beispiel, Stadtteil Neukölln, für Einheimische vor allem Wohnort, für Außenstehende eher Tatort. Am Rande einer trostlosen Betonschlucht stellen zwei Polizisten in Zivil einen Dealer, und was geschieht nach dem erwarteten Drogenfund? Der Einsatz endet im Wurfgeschosshagel Dutzender - nein, nicht Komplizen, sondern Nachbarn, die der organisierten Kriminalität offenbar näher stehen als der ermittelnden Staatsmacht. So drastisch, so glaubhaft, so gut beginnt eine TV-Serie, wie es sie zumindest aus deutscher Produktion noch nie gegeben hat: »4 Blocks«.

Sie läuft ab sofort beim kostenpflichtigen Nischenkanal TNT aus dem Hause des US-amerikanischen Medienmoguls Ted Turner und schafft etwas Außergewöhnliches: Eine Authentizität, die bisweilen fast ein bisschen zu echt ist, um wahr und erträglich zu sein. Es geht darin um einen weitverzweigten Clan arabischer Migranten in Neukölln. Zwischen Gemüsehändlern und Ausnahmezustand, Gaunern und Alltag regiert Familie Hamady über vier Häuserblocks, der die Serie ihren Titel verdankt. Ordnungshüter halten sich dezent fern, solange die Gesetzlosigkeit nicht in offene Anarchie ausartet. Der Kalte Krieg im Kleinen wird nur gelegentlich mal heiß.

Und das liegt besonders an Toni Hamady, der seinen Kiez in einer Mischung aus väterlicher Fürsorge und krimineller Energie im Gleichgewicht hält. Das Familienoberhaupt ist die deutsche Version des Mafioso Tony Soprano aus der US-Serie »Die Sopranos«, und wie dieser ist er auf der Suche nach bürgerlicher Normalität und Abstand zum Verbrechen. Trotzdem ist der deutsch-arabische Toni mehr als bloß ein Abklatsch seines Namensvetters mit »y«. Was wiederum viel mit Kida Khodr Ramadan zu tun hat. Der Berliner Schauspieler libanesischer Abstammung verkörpert den Clanchef mit einer so hingebungsvoll brodelnden Ausgeglichenheit, dass man als Zuschauer zu Recht befürchtet, es gebe sie tatsächlich, diese No-go-Areas genannten Zonen, in denen allenfalls das Recht der Straße herrscht, mehr aber noch das Recht der Angst. Regisseur Marvin Kren, der mit »Rammbock« einen der kreativsten Zombiefilme überhaupt gedreht hat, schafft es trotz seltener Ausflüge auf den Boulevard der Vorurteile (Titten, Autos, Kopftuchmädchen), die Balance zu halten zwischen dem, was das Publikum als zu hart empfände, und dem, was nun mal so hart ist, wie es eben ist.

Und dabei hilft ihm sein herausragendes Ensemble. Tonis Bruder Abbas zum Beispiel, gespielt vom Rapper Veysel Gelen in seiner ersten Rolle. Oder Frederick Lau als Clan-Buddy Vince, der - anders als in der deutschen Serienfiktion üblich - sogar eine Entwicklung durchmachen darf. Was die Serie, von der Staffel zwei bereits vorsorglich in Auftrag gegeben wurde, aber wirklich herausragend macht, ist die ständig eingestreute Normalität in einer Gegend, die beides ist: lebenswert und abstoßend.

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