Kubanische Szenen
Aus dem Alltag der Karibikinsel. Von Jo Wüllner (Text) und Esa Wüllner (Fotos)
Kontraste
Die Küstenstraße um Havanna ist meist sechsspurig ausgebaut, Fahrbahnkennzeichnungen aber sind verblasst. Die breite Promenade könnte Tausende von Flanierenden aufnehmen, die aber nicht kommen, auch nicht an tropischen Abenden. Es fehlt alles, was Menschen anzieht. Licht, Bänke, Nischen, Stände, an denen Überflüssiges verkauft wird. Keine Brüche in der Monotonie der aneinandergereihten Platten aus minderwertigem Beton, der der salzigen Luft und dem Sprühregen des Wellengischts nicht gewachsen ist. Die zuvor eingegossenen Kiesel ragen aus den verwitterten Platten empor und offerieren dem Fußgänger eine permanente Hardcore-Fußsohlenmassage.
Am Nordrand der Altstadt derart klischeehafte Kontraste, dass die Beschreibung schon peinlich ist: Drei-, vieretagige Häuser, mit prächtigen Geschosshöhen, weiten Fensteröffnungen zum Meer, etwas eng geratenen, Schatten spendenden Kolonnaden. In aller - westlich kapitalisierten - Welt wäre das eine der begehrtesten Wohnlagen. Hier ist jedes dritte, vierte Haus eine halbe Ruine. Die Fassade aus Muschelsandstein mit sichtbaren Einschlüssen ist ähnlich ungeeignet fürs Meeresklima wie der hier übliche Beton.
Fahrzeuge
Nach der Revolution von 1959 war die Insel abgeschnitten von den Warenströmen der Amerikaner, von den chromglänzenden Chevys und Buicks, den Klimaanlagen, den Fernsehgeräten, den Drogenlieferungen der Mafia. Übrig blieben die heckbeflügelten Straßenkreuzer, ohne die der nunmehr seit 25 Jahren zäh sich aufbauende Tourismus heute undenkbar wäre. Sie prägen immer noch das Straßenbild, Wagen der Jahrgänge 1948 bis 1959, groß, mal weich gerundet, mal scharfkantig, die Motoren röchelnd und blubbernd, meist in leuchtendem Grün, Pink oder Rosa lackiert. 45 000 sollen es noch sein. Einst waren es fast 200 000. Stumpfer Lack und Rost signalisieren rein private Nutzung. Alles, was in bunten Farben erstrahlt, ist ein Taxi, also ein Touristentransportmittel. Wer geschäftlich unterwegs ist, sitzt in einem Staatsbetriebstaxi, meist chinesische Klone von deutschen oder japanischen Marken. Dazwischen die kastigen russischen Wagen der Marken Lada und Moskwitsch aus den 70er und 80er Jahren. Aber die mag keiner. Oft wird von »Russenkisten«, spanisch »cajas rusas«, gesprochen.
Um den Erhalt der über 50 Jahre alten US-Wagen hat sich ein ganzes Logistik- und Wirtschaftssystem entwickelt, angetrieben von erfindungsreichen, tüftelnden, improvisierenden Menschen, die kleinkapitalistisch ihr Businessbiotop pflegen. Herzstück sind Hunderte von Mechanikern, Männer aller Altersgruppen, die wissen, wie man jedes auf der Insel fahrende Auto komplett zerlegt und wieder zusammensetzt.
Originalersatzteile gibt es schon lange nicht mehr. Also muss entrostet, lackiert, recycelt, neu konstruiert werden. Motor- und Getriebeteile werden von Grund auf neu gedreht und geschliffen. Was nach der Restaurierung herauskommt, nennt die Szene liebevoll »Frankenstein-Car«.
Reparaturen
Allenthalben wird repariert. In einer kleinen, umgewidmeten Lagerhalle befindet sich eine Reparaturwerkstatt für elektrische Haushaltsgeräte. Eine Schlange vor dem Eingang, Frauen tragen Toaster in Plastiktaschen, Männer haben alte Röhrenfernseher vor sich auf dem Boden stehen. Drinnen geht die Schlange in eine Reihe von Stühlen entlang einer Wand über. Gedämpft kaltes Licht von zu schwachen Energiesparlampen, die ohne Lampenschirm von der Decke hängen, die aber als allerorten anzutreffende Standardbeleuchtung immerhin die Zahl der Stromausfälle durch Netzüberlastungen in den letzten Jahren deutlich haben sinken lassen.
Vor der gegenüberliegenden Wand steht ein halbes Dutzend breiter Tische, an der Wand Regale mit Werkzeug, Ersatzteilen, Schrauben, Drähten. Wer an der Reihe ist, setzt sich an einen Mechanikertisch, erläutert dem dort sitzenden Fachmann die Probleme seines Gerätes, während der schon das Gehäuse öffnet. So sitzt man einander gegenüber, der Kunde sieht, was nötig ist, was vielleicht auch nicht mehr zu machen ist. Aber vieles geht. Das Meiste funktioniert elektrisch und nicht elektronisch. Hier helfen noch Werkzeug, Wissen, Intuition und eben Improvisationstalent.
Wohnen
Der kleinbürgerliche Kubaner wohnt auf engem Raum und ist geschmacksarm eingerichtet. (Ich sage »Kleinbürger«, weil Armut nichts mit proletarischer Existenz zu tun hat; Lebensform und sozialer Wertehorizont sind hier dominant kleinbürgerlich.) Räumliche Enge wird durch die Optionen des Klimas kompensiert: Terrassen und Dachgärten sind im kubanischen Dauersommer als vollwertiger Wohnraum zu verbuchen. Was als geschmacksarm erscheint, ist Resultat eines stilistischen Synkretismus, der mit zu wenig Geld auf zu wenige und schlecht produzierte Produkte zugreifen muss.
Der gelungenste Stil bedient sich immer noch konsequent im Musterkatalog des spanischen Kolonialstils des 18. und 19. Jahrhunderts. Also bei ornamentalen Kacheln, die an die iberischen Azulejos erinnern, allerlei guss- und schmiedeeisernem Außendekor für Tore, Fenster, Sitzgelegenheiten und dunklen, exotischen Harthölzern für allerlei Gedrechseltes und Geschnitztes.
Einkauf
In der Altstadt von Havanna muss man wissen, wo es etwas gibt, denn man findet es nur schwer. Es fehlen alle Verkaufs- und Orientierungssignale der westlichen Konsum- und Warenwirtschaft. Keine oder kaum leserliche Schilder über den Eingängen zu Geschäften, die oft auch nicht als solche zu erkennen sind. Werbung nur im verwitterten Zustand. Kaufanimierende Straßendisplays? Unbekannt.
Ein Laden in seiner rudimentären Version besteht aus einer Tür in der Fassade eines Hauses mit eine Reihe Türen, dahinter jeweils ein gerade meterbreiter Raum mit einer Theke. Im kaum beleuchteten Hintergrund ein Regal mit kaum identifizierbaren Waren. Vor dem Eingang im besten Fall eine Traube Menschen, die signalisiert, dass es hier Notwendiges gibt. Also Brot, Fleisch, Reis, Bohnen oder Wasser, Agua Natural, in Plastikflaschen, das aber schon Luxus ist, denn die Einheimischen sind meist gegen die Bakterien im städtischen Leitungswasser im Laufe der Jahre immun geworden. Nur Menschen aus anderen Landesteilen oder eben Touristen brauchen das abgepackte Wasser.
Kommunikation
Der Kubaner redet nicht leise. Der Kubaner, der ein Smartphone benutzt, redet meist sehr laut. Denn die Verbindungen sind oft schlecht. Und die Umgebungsgeräusche sind hoch. Das Smartphone ist Kultgegenstand, nicht anders als in westlichen Ländern. Es ist Basis für alle neu entstehenden Dienstleistungen.
Wer ein Smartphone will, muss etwa das Doppelte unserer Preise bezahlen können. Die Auswahl ist klein; in manchen Straßen finden sich improvisierte Läden. Nach außen geht es um Ersatzteile, drinnen werden Telefone angeboten, die auf vielen, aber wenigen offiziellen Wegen hierher gekommen sind.
Wer ein Smartphone hat, telefoniert oder verschickt Textnachrichten. Wer als Normalbürger ins Internet will, macht dies öffentlich an einem von gut 200 WLAN-Hotspots, die über der ganzen Insel, überwiegend in den großen Städten, verteilt sind. Die Internetzonen sind sofort zu erkennen: Mindestens 100, manchmal mehr als 200 Personen umlagern den Hotspot auf ihren Smartphones tastend. Ein Platz, eine Kreuzung, die Terrasse vor einer Filiale des staatlichen Kommunikationsunternehmens Etecsa wird in eine digitale Plaza verwandelt. So loggt sich derzeit eine gute Viertelmillion Menschen täglich ein, Tendenz stark steigend. Aber weil es so viele sind, die sich an so wenigen Hotspots drängeln, ist die Bandbreite bescheiden und die Abbruchrate der Verbindungen hoch.
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