Berlin erlässt faktischen Abschiebestopp nach Ungarn

Bundesinnenministerium: Budapest kann Einhaltung von EU-Standards beim Umgang mit Asylsuchenden nicht garantieren

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Ungarn steht international massiv wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen in der Kritik: Die Bundesregierung will nun nur noch Flüchtlinge in das osteuropäische Land zurückschicken, wenn die Regierung in Budapest die Einhaltung von EU-Standards garantiert, wie das Bundesinnenministerium mitteilte. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht darin faktisch einen »Abschiebestopp« und fordert weitere Schritte gegen Ungarn.

Mit Erlass vom 6. April forderte das Bundesinnenministerium das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf, bei Dublin-Übernahmeersuchen an Ungarn »bis auf weiteres von den ungarischen Behörden eine Zusicherung zu erbitten«, dass der betroffene Flüchtling entsprechend den Normen der EU-Richtlinie zu Aufnahme von Asylbewerbern untergebracht wird, wie ein Ministeriumssprecher der Nachrichtenagentur AFP mitteilte. Zudem soll die ungarische Seite zusichern, dass der Asylantrag gemäß der EU-Asylverfahrens-Richtlinie bearbeitet wird.

»Ohne eine derartige Zusicherung von den ungarischen Behörden soll keine Überstellung erfolgen«, erklärte der Ministeriumssprecher weiter. Er bestätigte damit einen Bericht der Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kommt diese Anweisung an das Bamf einer Aussetzung von Rückführungen nach Ungarn gleich: »Wenn man das genau liest, ist das ein Abschiebestopp«, sagte Pro Asyl-Europareferent Karl Kopp der AFP. »Konsequenter wäre es, angesichts der eklatanten Menschenrechtsverletzungen, jetzt EU-weit Abschiebungen nach Ungarn auszusetzen und die Asylverfahren selber durchzuführen.«

Ungarn steht für seinen Umgang mit Flüchtlingen international in der Kritik. Die rechtsgerichtete Regierung des Landes weigert sich beständig, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie hat an seinen Grenzen Sperranlagen gebaut, um die Migranten abzuhalten. Einem neuen Gesetz zufolge werden alle Flüchtlinge für die Dauer ihres Asylverfahrens in Containerdörfer nahe der Grenze zu Serbien eingesperrt, sie verlieren jegliche Bewegungsfreiheit.

Die Vereinten Nationen forderten die Europäische Union bereits am Montag auf, keine Asylsuchenden mehr nach Ungarn zu schicken. Das neue ungarische Flüchtlingsgesetz sei »inakzeptabel«, erklärte UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. Er kritisierte die schlechte Behandlung von Flüchtlingen.

Solange Budapest seine »Praxis und Politik« nicht an »europäisches und internationales Recht« anpasse, müssten die EU-Staaten den Flüchtlingstransfer auf der Grundlage des Dublin-Abkommens aussetzen, verlangte Grandi. Die Dublin-Regeln sehen vor, dass die Schutzsuchenden in jenem Land ihren Asylantrag stellen, wo sie zuerst EU-Boden betreten haben; notfalls müssen sie aus anderen EU-Ländern dorthin zurückgebracht werden.

Deutschland stellte im vergangenen Jahr nach Angaben der Bundesregierung 11.998 Übernahmegesuche an Ungarn. Allerdings wurden nur 294 Asylsuchende tatsächlich nach Ungarn überstellt. Nach Informationen der Menschenrechtsgruppe Helsinki Komitee wurden vergangenes Jahr insgesamt 513 Asylbewerber nach den Dublin-Regeln aus anderen europäischen Ländern nach Ungarn zurückgeschickt.

Pro Asyl-Experte Kopp forderte die Europäische Union auf, außer einem Abschiebestopp weitere Maßnahmen gegen die Regierung in Budapest zu ergreifen. »Die Situation dort ist so dramatisch, dass dies nur ein Aspekt sein kann«, so Kopp. Aufgrund der eklatanten Menschenrechtsverletzungen müsse die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten und Sanktionen etwa in Form von Stimmrechtsentzug verhängen. Agenturen/nd

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