Der Brexit war ein Warnschuss
Ökonom Andrew Watt hält die Auswirkungen des Ausscheidens Großbritanniens auf die EU für begrenzt
Bisher ist der ganz große Krach auf Grund des Brexits ausgeblieben. Wird er noch kommen, nachdem Theresa May diesen Mittwoch den Austritt Großbritanniens aus der EU offiziell beantragt?
Wahrscheinlich nicht. Ich war schon vergangenen Sommer, als andere nach dem Referendum die Alarmglocken läuteten, skeptisch, dass es zum großen Krach kommen würde. Stattdessen wird Großbritannien wahrscheinlich eine langsame, aber nichtsdestotrotz schwere Abschwächung seiner Wirtschaft erleiden.
Unmittelbar nach dem Volksentscheid ging Ihr Institut davon aus, dass der Brexit die deutsche Wirtschaftsleistung 2017 um bis zu 0,5 Prozent abschwächen könnte. Haben Sie diese Einschätzung revidiert?
Ja. Wir quantifizieren in unserer aktuellen Basisprognose nicht mehr einen spezifischen Brexiteffekt auf die deutsche Konjunktur; aber die Pfundabwertung und die von uns prognostizierte Abschwächung werden für sich schon restriktiv wirken.
Und was ist, wenn die Verhandlungen scheitern und es zu einem ungeordneten Austritt Großbritanniens kommt?
Wenn dies passiert, wird es sich bei den Verhandlungen bereits abzeichnen. So wird es zu negativen Vorzieheffekten kommen, weil die Wirtschaftsakteure das Scheitern schon im Vorfeld antizipieren.
Was ist das Worst-Case-Szenario für die Briten?
Am Ende könnte es sein, dass Großbritannien nur noch einfaches Mitglied der Welthandelsorganisation ist - ähnlich wie Papua-Neuguinea oder irgendein anderes Land auch - ohne Anbindung an eine Freihandelszone oder jegliche Handelsverträge. Großbritannien müsste dann noch mal ganz von vorne anfangen. Dies würde natürlich ökonomische Kosten verursachen.
Wie hoch werden die sein?
Dies ist im Moment schwer abzuschätzen. Es gibt zwar Prognosen, die infolge eines starken Rückgangs des Außenhandels und der Direktinvestitionen aus dem Ausland von einem permanenten Verlust bei der Wirtschaftsleistung in Höhe von sieben, acht, neun Prozent ausgehen. Doch sind solche Schätzungen mit großen Unsicherheiten behaftet.
Eine solche Unsicherheit ist derzeit Schottland.
Wenn Theresa May den Wunsch der Schotten nach einem Unabhängigkeitsreferendum ablehnt, haben wir natürlich eine handfeste Verfassungskrise. Und auch in Nordirland, wo der langjährige Konflikt auch mit Hilfe der europäischen Integration entschärft wurde, strebt man wieder verstärkt nach Unabhängigkeit beziehungsweise nach Wiedervereinigung der irischen Insel. Doch es geht vor allem auch darum, was mit den über drei Millionen Migranten mit einem EU-Pass passiert, die in Großbritannien arbeiten. Wenn diese das Land verlassen müssen, wird es etwa für den Gesundheits- oder Finanzsektor, wo viele von ihnen arbeiten, große negative Auswirkungen haben.
Wird Großbritannien nicht versuchen, diese Brexit-Folgen durch eine Hinwendung zu den USA abzuschwächen?
Genau deshalb bekommen viele meiner Landsleute gerade kalte Füße. Viele Briten, die die letzten Jahre sehr EU-kritisch waren, bezeichneten sich als Atlanticists, die eine stärkere Orientierung Großbritanniens über den Atlantik hinweg Richtung USA fordern. Doch ihnen haben die USA einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Wie meinen Sie das?
Just in dem Moment, in dem die Briten den Bruch mit der EU gewagt haben, wählten die Vereinigten Staaten Donald Trump zu ihrem neuen Präsidenten. Und dieser ist gelinde gesagt ein schwieriger Verhandlungspartner, der zudem noch eine protektionistische Handelspolitik zum Schutze der US-Industrie anstrebt. Das hat zu großer Ernüchterung in Großbritannien geführt.
Wird der Brexit Auswirkungen auf den Welthandel haben?
Großbritannien ist zwar derzeit die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Doch außer in einzelnen Bereichen wie dem Finanzsektor wird der Brexit vermutlich keine Auswirkungen auf den Welthandel haben. Da sind die Veränderungen, die Donald Trump in der Handelspolitik anstrebt, weitaus schwerwiegender.
Könnten die Verwerfungen auf den Finanzmärkten nicht beträchtlich sein? Immerhin ist London einer der größten Finanzplätze der Welt, der nun außerhalb der EU liegt.
Diese Verwerfungen werden sich vermutlich weitgehend auf die britischen Märkte selbst beschränken. Die großen Banken und Hedgefonds werden abwarten, was für ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU herauskommt und dann nüchtern entscheiden, ob sie in London bleiben oder etwa nach Paris oder Frankfurt am Main ziehen. Da gibt es noch ganz andere Stellen, wo es in der Finanzwelt krachen könnte.
Die da wären?
Die Eurokrise ist immer noch nicht ganz überstanden. Besonders die hohen italienischen Staatsschulden stellen eine Gefahr dar.
Könnte der Brexit da eine Kettenreaktion auslösen?
Nein. Die Gefahr, die vom Brexit ausging, war eine politische. Die ganzen Rechtspopulisten wie Nigel Farage von der britischen UKIP oder Geert Wilders in den Niederlanden rieben sich schon die Hände, da sie nun die Chance sahen, die EU zu zerlegen. Doch es hat sich relativ schnell gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Selbst die Front National in Frankreich will zwar noch die Eurozone verlassen, schiebt aber die Frage, ob man in der EU bleiben will, mittlerweile auf die lange Bank. Insofern war der Brexit ein Warnschuss, der im übrigen Europa gehört wurde.
War die Gefahr für die EU dann im Sommer 2015 größer, als der Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone im Raum stand?
Vielleicht. Damals ging es um eine gemeinsame Währung. Insofern wäre der Grexit gefährlicher gewesen als der Brexit, auch wenn Griechenland mit einem Anteil von zwei Prozent an der Wirtschaftsleistung des Euroraums ein wirklich kleines Land ist. Zudem war Großbritannien immer ein schwieriger Partner für die restlichen 27 EU-Staaten: London wollte immer spezielle Regeln etwa im Finanzbereich haben und viele Sachen wie die gemeinsame Währung oder Schengen nicht mitmachen.
Ist der Brexit da nicht auch eine Chance für den Rest Europas?
Brexit ist Herausforderung, aber auch Chance. Die Gemeinschaft muss jetzt zeigen, dass sie sich zusammenraufen und die Demokratie auf der europäischen Ebene stärken kann. Doch letztlich gibt es keine Alternative dazu, die EU 60 Jahre nach den Römischen Verträgen weiter zu stärken.
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