Frauen über 27 gelten als »übrig geblieben«
Druck auf Unverheiratete in China, denn Heiraten hat einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert
Sonntag ist Markttag im Himmelstempelpark in Peking. Es wird geschachert und angepriesen: »Frau, Jahrgang 1988, 168 Zentimeter groß, 55 Kilo, Krankenschwester« steht auf einem Zettel, der in einer Reihe mit vielen anderen DIN-A4-Blättern auf dem steinernen Boden liegt. Ein Mann Mitte 50 liest das Angebot genau und scheint interessiert. »Mein Sohn«, sagt er und streckt der Frau, die hinter dem Papier auf einer kleinen Mauer sitzt, ein Foto hin. Die Eltern versuchen, ihre Kinder zu verkuppeln.
Heiraten hat in China immer noch einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert - was gerade für Singlefrauen und Homosexuelle eine große Last ist. Vor dem 30. Geburtstag sollten Chinesinnen unter der Haube sein: Rund 90 Prozent der Frauen heiraten davor, durchschnittlich im Alter von 26 Jahren, wie das chinesische Büro für Medien und Statistik errechnet.
Schon leicht über dem Durchschnitt sind die Jahrgänge, die im Park auf den Zetteln notiert sind: 1987, 88 oder 89. Auf manchen Blättern können interessierte Eltern einen Code mit ihrem Handy scannen, der direkt zum Profil des alleinstehenden Kindes im sozialen Netzwerk WeChat führt. Heiratsmarkt im digitalen Zeitalter. Die zu Verkuppelnden wissen häufig nichts von ihrem Glück.
»Vielen ist das total peinlich«, sagt Billy. Der 25-Jährige sitzt in einem Café in einem Pekinger Einkaufszentrum. Auch seine Eltern preisen ihm regelmäßig potenzielle Schwiegertöchter an. Billy ist allerdings nur an Männern interessiert. »Meine Eltern wissen nichts davon.« Sein Elternhaus auf der südchinesischen Insel Hainan sei sehr traditionell. »Ich müsste meinem Vater das Konzept der Homosexualität erst einmal erklären.«
Sein Coming-out würde in der Familie viele Tränen auslösen, sagt Billy. Seine Eltern erwarten, irgendwann Enkel zu haben. Deshalb erzählt er, er habe im Moment keine Zeit für eine Freundin. Wie lange er diese Lüge aufrecht erhalten kann, weiß er nicht. Er wird sie auf jeden Fall wieder erzählen, wenn er im Februar zum Chinesischen Neujahr - ohne Partnerin - nach Hause fliegt. Kaum eine Mutter oder ein Vater wisse um die Homosexualität der Kinder. Auch bei seinem Freundeskreis in Peking sei das so. Während es in der Hauptstadt viele Bars, Clubs oder Organisationen für Homosexuelle gebe, sei das Gespräch mit den eigenen Eltern unmöglich. »Es wird als Schande für die Familie gesehen.« Freunde, die sich in der Familie geoutet haben, hätten in den meisten Fällen keinen Kontakt mehr zu den Eltern, berichtet er.
Auch andere Singles haben ein Problem. Etwa 200 Millionen Chinesen sind alleinstehend - mit großem Männerüberschuss, berichtet die Agentur Xinhua. Nach Angaben des chinesischen Statistikamtes wird es 2020 etwa 24 Millionen Männer mehr im heiratsfähigen Alter geben als Frauen. Und trotzdem gelten Frauen über 27 Jahre in der Gesellschaft als »übrig geblieben«, erklärt Xiong Jing, Direktorin von »Women’s Media Monitor Network«, das sich in China für geschlechtliche Gleichberechtigung in den Medien einsetzt. »Heiraten wird als eine Notwendigkeit im Leben gesehen.«
Auch Frauen mit hohem Bildungsstand und gutem Job, die finanziell nicht auf eine Ehe angewiesen seien, fühlten den Druck, endlich zu heiraten, erklärt Jing. Dass es immer mehr unabhängige Frauen gebe, sei schon eine große Veränderung im Vergleich zu früher. Da Familien wegen der bis zum vergangenen Jahr gültigen Ein-Kind-Politik meistens nur einen Nachkommen haben, sei die Erwartung besonders groß. »Bei manchen Frauen führt das zu großer Angst.«
Der Heiratsdruck sei aber kein rein weibliches Problem, sagt Jing. »Männer spüren den Druck gleich stark, allerdings erst später.« Männer würden selbst in ihren 30ern oder 40ern nicht die gleiche Stigmatisierung erfahren wie Frauen in diesem Alter. Sei etwa eine alleinstehende Frau im Beruf auf einer Führungsposition, werde sie schnell als »nü han zi«, frei übersetzt »Mannweib«, angesehen. »Männer haben in dieser Situation weniger Nachteile.« dpa/nd
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