An diesem heiligen Ort ...

»Zajezdnia« - Blinde Flecken im neuen Zentrum für Geschichte in Wrocław

  • Daniela Fuchs
  • Lesedauer: 5 Min.

Wrocław präsentierte sich im vergangenen Jahr als eine bunte, weltoffene europäische Kulturhauptstadt. Etwa zweitausend Events zogen rund 5,2 Millionen Besucher aus dem In- und Ausland in die schlesische Metropole. Die Stadtväter und Stadtmütter wollen den positiven Schub des letzten Jahres nutzen und auch im neuen Jahr Kunst- und Geschichtsinteressierte von allerorts anlocken. Zum Beispiel in das im Herbst 2016 eröffnete neue Zentrum für Geschichte »Zajezdnia« in der Grabiszyńska-Straße. Für dieses ist das ehemalige Depot (polnisch: Zajezdnia) der Städtischen Verkehrsbetriebe, ein Backsteinbau aus dem 19. Jahrhundert, mit staatlichen Geldern aufwendig umgebaut worden. Ein historischer Ort auch im weiteren Sinne: Hier stand die Wiege der Wrocławer Solidarność.

Am 26. August 1980 hatten die Beschäftigten des Nahverkehrs die Arbeit niedergelegt, um sich mit den Streikenden an der Ostseeküste, in Gdańsk und Gdynia zu solidarisieren. Mit den damaligen Protesten begann die politische Transformation in Polen. Die mächtige, selbstbewusste Gewerkschaftsbewegung bildet denn auch einen wesentlichen Schwerpunkt in der Dauerausstellung des neuen Geschichtszentrums. Für Wojciech Kucharski, einer der Kuratoren, wurde »an diesem heiligen Ort« nicht nur die Solidarność, sondern auch die bürgerliche Gesellschaft und die heutige Identität Wrocławs geboren.

Das Museum entspricht modernsten Anforderungen mit seiner multimedialen Ausstattung. Inhaltlich richtet es sich hingegen nach dem Geschichtsbild der rückwärtsgewandten rechtskonservativen Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS).

Premierministerin Beata Szydło hatte 2015 in ihrer Regierungserklärung gefordert, die Geschichte des polnischen Staates wieder zum Gegenstand nationalen Stolzes zu erheben. Dem dient ganz offenkundig auch das neue Geschichtszentrum in Wrocław. Die Polen sind allesamt freiheitsliebend, katholisch und patriotisch, wird hier suggeriert. Polen war stets nur ein Opfer, Spielball vor allem der benachbarten Großmächte Deutschland und Sowjetunion. Solche groben Vereinfachungen, die mit einer neuen Gewichtung historischer Ereignisse einhergehen, sind teilweise mehr als bedenklich.

Die Exposition beginnt mit der Wiedererlangung staatlicher Souveränität 1918, nach dem Ersten Weltkrieg. Das Motto in dem bis ins Jahr 1939 führenden Abschnitt lautet: »Das waren Zeiten!«. Vorgeführt wird dem Besucher das Leben in der II. Polnischen Republik mit ihren gesellschaftlichen und kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Leistungen. Der Katalog kommentiert, im Gedächtnis der Polen seien die 1920er Jahre als Zeit einer gewissen Stabilität haften geblieben. Realität jener Jahre waren jedoch auch heftige Klassenkämpfe, ein kurzzeitiger polnisch-sowjetischer Krieg, ein Staatsstreich und innenpolitische Instabilität, die hier eher schamvoll kaschiert werden. Sodann werden die diplomatischen Aktivitäten der Großmächte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges geschildert und ausführlich das geheime Zusatzprotokoll zum sogenannten Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 sowie die Teilung und Besetzung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion beschrieben. Einen besonderen Raum nimmt das immerwährende Trauma Katyń ein sowie der patriotische Widerstand von vor allem bürgerlichen Märtyrern. Der Holocaust an der jüdischen Bevölkerung ist nur eine kurze Erwähnung wert.

Ganz im Sinne der vaterlandsliebenden Erziehung findet der Warschauer Aufstand von 1944 besondere Hervorhebung, dargestellt in einem begehbaren, nachgebauten Kanal. Die Kanäle Warschaus waren damals Versteck und Rückzugsort der Aufständischen, von denen viele nach dem Krieg in Wrocław lebten.

Anschaulich verdeutlicht ist die furchtbare Zerstörung Breslaus, nachdem die Nazis die Stadt zur Festung erklärt hatten. Sie kapitulierte erst am 6. Mai 1945. Im Katalog erfährt der Leser, dass 6000 deutsche Soldaten und 170 000 polnische Zivilisten damals ihr Leben ließen. Über die bei der Einnahme Breslaus gefallenen Rotarmisten, die großteils in einem zermürbenden Häuserkampf starben, gibt es keine Angaben.

Auf der Grundlage alliierter Beschlüsse wurde aus der deutschen Stadt Breslau das polnische Wrocław. Der Namensänderung folgte ein vollständiger Bevölkerungsaustausch. Ein Original-Güterwagen verweist auf die Ankunft der neuen »Städter«. Viele kamen aus Zentralpolen und den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die nun zur Sowjetunion gehörten. Sie waren es auch, die die Stadt wieder aufbauten und aufblühen ließen. Dies will Marek Mutor, PiS-Aktivist, Mitautor der Ausstellung und Direktor des Zentrums, auch nicht bestreiten, gleichwohl er die kommunistische Ära insgesamt negativ wertet. Zu den Pionieren der Anfangszeit gehörte übrigens auch der Historiker Władysław Czapliński, der von 1946 bis zur Pensionierung 1975 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wrocław war und zu den Lehrer der Autorin dieser Zeilen gehörte.

Die ausgestellten Alltagsgegenstände aus der polnischen Volksrepublik wie Möbel und Küchengeräte, aber auch größere Exponate, beispielsweise ein Kiosk und ein kleiner Fiat, kommen bei den Besuchern besonders gut an. Sie wecken wohl auch wohlige Erinnerungen, die den vorgegebenen düsteren Pauschalurteilen über den einstigen sozialistischen Alltag widersprechen.

Breiten Raum in der Schau nimmt die Kirche ein. Neben dem polnischen Papst Johannes Paul II. wird als herausragende Persönlichkeit der Wrocławer Kardinal Bolesław Kominek gewürdigt, Verfasser eines Hirtenbriefes vom November 1965 an die deutschen Amtsbrüder, in dem es um Aussöhnung und Vergebung zwischen Polen und Deutschen ging. Die Außenfassade des Museums ziert das Kreuz der Christenheit, sicherlich auch als Hinweis gemeint auf die enge Verbindung zwischen Solidarność und Kirche. Im Internet rief dies allerdings bereits die verwunderte Frage hervor, ob »Zajezdnia« nun eine Kirche oder ein Museum sei.

Seit einigen Jahren gibt es im Königsschloss von Wrocław eine wunderbare Ausstellung über tausend Jahre Breslau. Sie wird dem Anspruch, ein Lehrstück zur bewegten, schwierigen, widersprüchlichen Geschichte der Stadt zu sein, gerecht. Die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft spiegelt sich also auch in der Museumslandschaft wider.

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